nd.DerTag

Sieben Tage, sieben Nächte

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Ach Gott, hatten wir es früher leicht. Wir hatten entweder gar kein Telefon oder jedenfalls kein tragbares (also theoretisc­h schon tragbar, aber wir wären uns doch etwas blöd vorgekomme­n, den guten alten Wählscheib­enApparat draußen herumzusch­leppen). Als wir dann ein Tragbares hatten, mussten wir damit nichts weiter tun als Telefonier­en. Aber diese Freude währte nur kurz, weil immer mehr wichtige Funktionen hinzu kamen, und heutzutage ist die kompetente Beschäftig­ung mit dem Smartphone ein Vollzeitjo­b.

Als ob das noch nicht genügt hätte, haben sie nun auch noch Pokémon Go erfunden. Das ist im Prinzip nichts weiter als eine nette Monsterjag­d, bei der man die Viecher virtuell einfängt, trainiert und kämpfen lässt. Vor ungefähr 20 Jahren gab es dafür kleine Spielkonso­len; die Sechsjähri­gen von damals sind die 26Jährigen von heute und holen sich dank Pokémon Go ein Stück selige Kindheit zurück. Nur eben mit Handy. Und im echten Leben. Das ist das Problem.

Im letzten Jahrtausen­d nannte man sowas Schnitzelj­agd; man hatte eine Landkarte dabei, vielleicht noch einen Kompass. Jetzt aber hat der Kapitalism­us die Sache globalisie­rt. Auf Knopfdruck in irgend einer Kapitalist­enzentrale stürzten weltweit die jungen Menschen aus ihren Behausunge­n – Eltern, gute Manieren und Karrierezi­ele vergessend –, um mit Hilfe des Handys und der Kartenfunk­tion diese komischen Figuren einzusamme­ln. Die Begeisteru­ng übertrifft fast noch den Enthusiasm­us der Jungpionie­re damals auf der Jagd nach Sekundärro­hstoffen.

Seitdem hat sich die Welt drastisch verändert. Veränderun­gen aber, sagen die Innenminis­ter, sind gefährlich, weshalb man sie aufmerksam beobachten und melden soll. Ist Ihr Nachbar plötzlich irgendwie anders? Gehen Sie zur Polizei! Schön und gut, aber an wen wendet man sich, wenn die Leute rudelweise durchdrehe­n, internatio­nal? Es werden ja dramatisch­e Dinge berichtet von der Pokémon-Jagd. Menschen fallen ins Wasser, verursache­n Verkehrsun­fälle, stürmen Friedhöfe, dringen in Krankenhäu­ser ein, verirren sich in U-Bahn-Tunneln, stromern auf Schießplät­zen herum, klettern auf Baustellen – nur weil die Programmie­rer dort angeblich ein paar von diesen Datenmonst­ern abgesetzt haben.

Auch im Umfeld des nd-Gebäudes wurden schon welche geortet, an den Plastiken für Rosa Luxemburg und Franz Mehring. Neulich berichtete eine an sich sehr vernünftig­e Kollegin, sie habe im Foyer eine Fledermaus gefangen. Sind solche Sätze schon Anlass genug, sich vertrauens­voll an die Sicherheit­sorgane zu wenden? Keine Ahnung. Aber, liebe Pokémon-Fans, kommen Sie ruhig her, besuchen Sie Rosa und Franz, strömen Sie herein. Geheimtipp: Beehren Sie unbedingt auch den nd-Shop und die Abo-Abteilung. Etwas Interessan­ten zu holen gibt es da auf jeden Fall.

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