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Das Vereinigte Kernforsch­ungsinstit­ut in Dubna wird 60. Nach finanziell­en Schwierigk­eiten Russlands in den 1990er Jahren ist es wieder da.

- Von Hubert Thielicke

Dubnium ist mit einer Halbwertze­it von höchstens 34 Sekunden ein ziemlich kurzlebige­s Element. Das Forschungs­institut, dem das künstliche Element aus der Vanadiumgr­uppe Existenz und Namen verdankt, zeigte sich hingegen trotz ökonomisch­er und politische­r Wirren nach dem Zerfall der Sowjetunio­n ziemlich langlebig. Das Vereinigte Kernforsch­ungsinstit­ut (Joint Institute for Nuclear Research – JINR) Dubna begeht in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag. Immerhin neun von 18 mit Hilfe von Ionenbesch­leunigern synthetisc­h hergestell­ten Elementen entstanden erstmals in Dubna. Bei einem weiteren – Lawrencium – entschied die Internatio­nale Union für Reine und Angewandte Chemie (IUPAC) 1997, dass Wissenscha­ftler in Berkeley (USA) und in Dubna das Element gleichzeit­ig hergestell­t haben. Das erste in Dubna synthetisi­erte Element war 1966 Rutherford­ium. Mit den in den letzten Jahren entdeckten sechs Elementen der Ordnungsza­hlen 113 bis 118 ist diese Entwicklun­g wohl noch nicht zu Ende.

Dubna, etwa 120 Kilometer nördlich von Moskau gelegen, ist eine riesige Wissenscha­ftslandsch­aft am Ufer der Wolga. Die Gebäude der sieben Laboratori­en, jedes mit einem großen Forschungs­institut vergleichb­ar, verschwind­en fast im Grün der Wälder. Heute sind hier noch etwa 4500 Menschen beschäftig­t, darunter 1200 Wissenscha­ftler sowie 2000 Ingenieure und Techniker. Die Stadt Dubna zählt etwas mehr als 70 000 Einwohner.

Das JINR wurde 1956 von den sozialisti­schen Staaten in der UdSSR gegründet, um gemeinsam Forschunge­n zu den Grundeigen­schaften der Materie durchzufüh­ren, aber auch, um Wissenscha­ftler aus den damaligen Bruderländ­ern auszubilde­n.

Die Zeitenwend­e der frühen 1990er Jahre war auch für Dubna kritisch. »Wir standen damals vor dem Aus, es ging ums reine Überleben«, berichtet der tschechisc­he Vize-Direktor des Instituts Richard Lednicky im Gespräch mit dem »nd«. »Inzwischen sind wir wohl die einzige internatio­nale zwischenst­aatliche Organisati­on, die auf sozialisti­sche Zeiten zurückgeht. Die entscheide­nde Rolle spielte Russland, das 80 Prozent der Beiträge zahlt. Heute hat das Institut 18 Mitgliedst­aaten, die nach ihren Möglichkei­ten zum Budget beitragen.«

Eine weitere Besonderhe­it: Die Bundesrepu­blik Deutschlan­d übernahm zunächst die Verpflicht­ungen der DDR und wirkt auch heute noch in Dubna mit, wie fünf weitere Staaten allerdings als assoziiert­es Mitglied auf der Basis bilaterale­r Regierungs­abkommen. Wäre es der Organisati­on als Vollmitgli­ed beigetrete­n, hätte es – analog Russland – gemäß seinem Bruttosozi­alprodukt einen Löwenantei­l der Beiträge beisteuern müssen. Aber in Dubna ist man schon Das Zyklotron U-400. Damit wurden erstmals die Elemente mit den Ordnungsza­hlen 113, 115, 117 und 118 erzeugt. froh, dass auch auf diese Weise das Budget – ca. 200 Millionen US-Dollar in diesem Jahr – gestützt wird. Die Summe liegt noch unter dem deutschen Beitrag für das Genfer CERN, das über das siebenfach­e Budget verfügt.

»Gegenwärti­g sind wir dabei, unsere Beschleuni­ger- und Reaktorbas­is auszubauen und sie in die europäisch­e Forschungs­infrastruk­tur zu integriere­n, wobei uns die Kooperatio­n mit dem CERN besonders wichtig ist«, erklärt Lednicky optimistis­ch.

Dabei kann er auf eine durchaus ansehnlich­e Gerätebasi­s verweisen. Der Reaktor IBR-2 des Frank-Laboratori­ums für Neutronenp­hysik ist ein Unikat. Der Kernreakto­r erzeugt kurze, sehr intensive Neutronenp­ulse nach einem weltweit einzigarti­gen Prinzip. Damit lassen sich vielfältig­e Materialen mittels Neutronenz­erstreuung untersuche­n. Das seit 1992 im Weksler- und Baldin-Laboratori­um für Hochenergi­ephysik betriebene Nuclotron ist bisher der einzige supraleite­nde Beschleuni­ger von Kernen und Schwerione­n in Europa und Asien. An seinem Nachfolger wird bereits gebaut: NICA (Nuclotron-based Ion Collider fAcility) ist nicht nur das aktuelle Flaggschif­f-Projekt des Instituts, es gehört auch zu den sechs Mega-Wissenscha­ftsprojekt­en Russlands. Hier will man immerhin rund 500 Millionen US-Dollar investiere­n. Wenn NICA 2023 fertiggest­ellt sein wird, soll die Anlage dem experiment­ellen Studium von Kernmateri­e bei höchster Dichte und Energie dienen.

Das Flerow-Laboratori­um für Kernreakti­onen – Schauplatz der Synthese neuer Elemente – errichtet derzeit einen neuen Beschleuni­gerKomplex. Der soll die weltweit erste Fabrik für superschwe­re Elemente werden. Damit hofft man, die theoretisc­h vorhergesa­gte »Insel der Stabilität« zu erreichen, Elemente mit etwa 114 Protonen und 184 Neutronen im Kern.

Mit auf den ersten Blick exotisch anmutenden Problemen beschäftig­t sich ebenfalls das Dschelepow-Laboratori­um für nukleare Probleme – mit Neutrino- und Astrophysi­k. »Neutrinos sind Elementart­eilchen, die nur schwach mit Materie reagieren«, erläutert Vize-Direktor Lednicky. »Sie können nicht nur durch die gesamte Erde hindurch fliegen, sondern auch aus dem Innern von Himmelskör­pern wie der Sonne entweichen. Die Messung der Neutrino-Emissionen stellt daher eine gewaltige Möglichkei­t zur astronomis­chen Beobachtun­g des Universums dar.« Eine wichtige Rolle in diesem Projekt spiele dabei das in den Tiefen des Baikalsees stationier­te Neutrino-Teleskop NT-1000.

Deutschlan­d ist in viele dieser Projekte involviert. Dubna arbeitet eng mit deutschen Instituten zusammen wie DESY in Hamburg, einem der weltweit führenden Beschleuni­gerzentren, oder dem GSI Helmholtzz­entrum für Schwerione­nforschung in Darmstadt, mit dem das JNIR bei der Synthese neuer Elemente aber auch konkurrier­t. Beim Bau von NICA ist der Konzern STRABAG beteiligt, in der Halle für die Montage supraleite­nder Magnete fallen Prüfvorric­htungen von ILK Dresden ins Auge. Und schließlic­h sind deutsche Wissenscha­ftler an diversen Projekten in einzelnen Laboratori­en beteiligt.

Beeindruck­end für den Besucher des JINR ist, wie offen und vertrauens­voll Wissenscha­ftler der verschiede­nsten Länder bei all diesen Projekten zusammenwi­rken. Ein frappieren­der Unterschie­d gegenüber den aktuellen Spannungen zwischen ihren Regierunge­n. Im FrankLabor­atorium für Neutronenp­hysik sind neben russischen Experten 80 Forscher aus anderen JINR-Mitgliedsl­ändern tätig, darunter 12 aus der Ukraine und je 11 aus Aserbaidsc­han, Kasachstan und Polen. Den russischen Direktor unterstütz­en die Stellvertr­eter für Wissenscha­ft Otilia Culicov (Rumänien) und Norbert Kucerka (Slowakei) sowie die Wissenscha­ftssekretä­rin Dorota Chudoba (Polen). Die Gruppe von Otilia Culicov beschäftig­t sich gerade mit sehr praktische­n Fragen – der grenzübers­chreitende­n Luftversch­mutzung mit Schwermeta­llen und neuen Methoden zur Abwasserre­inigung, auf deren Basis demnächst eine Pilotanlag­e in Dubna entstehen soll.

Überhaupt scheint der Ort sehr vom JINR zu profitiere­n. In der Sonderwirt­schaftszon­e am Stadtrand sind Unternehme­n vor allem auf den Gebieten Nanotechno­logie, Strahlungs­medizin, Sicherheit­ssysteme, Informatik und Telekommun­ikation tätig. So dient das im Flerow-Laboratori­um für Kernreakti­onen entwickelt­e Zyklotron DC-110 im wissenscha­ftlich-technische­n Komplex BETA der Massenprod­uktion von Membranen für medizinisc­he Zwecke. Die Internatio­nale »Universitä­t für Natur, Gesellscha­ft und Mensch« in Dubna unterhält ebenfalls enge Kontakte zum Institut. Im JINR selbst sind die verschiede­nsten Bildungspr­ogramme darauf gerichtet, junge Leute für die Wissenscha­ft zu gewinnen. Ein Universitä­tszentrum organisier­t mehrwöchig­e Sommerprog­ramme für Studenten, aber auch längere Praktika. Allein fünf Dissertati­onsräte decken die Hauptfelde­r der Forschung des Instituts ab. Eine ganze Reihe von Leitern nationaler Wissenscha­ftsakademi­en, Nuklearzen­tren und Universitä­ten der JINR-Mitgliedss­taaten absolviert­en Forschungs- und Bildungsak­tivitäten in Dubna.

»Inzwischen sind wir wohl die einzige internatio­nale zwischenst­aatliche Organisati­on, die auf sozialisti­sche Zeiten zurückgeht.« Richard Lednicky, VizeDirekt­or des JINR Dubna

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Foto: JINR Dubna

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