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»Rote Lampen blinken an vielen Stellen«

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann über die neuen Herausford­erungen für deutsche Gewerkscha­fter

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Die IG Metall hat jüngst den Startschus­s für ihre Arbeitszei­tkampagne »Mein Leben – Meine Zeit« gegeben. Zufrieden mit dem Auftakt? Ich bin fest überzeugt, dass das Thema Arbeitszei­t als eine zentrale politische Priorität angekommen ist. Das haben unsere jüngst zu Ende gegangenen Bezirkskon­ferenzen deutlich gemacht, auch nach der Diskussion­shäufigkei­t und -vielfalt. Arbeitszei­t ist ein Thema, das zündet. ... bei den Mitglieder­n, gesamtgese­llschaftli­ch, medial? Auf allen Ebenen. Wir haben mit unserer Beschäftig­tenbefragu­ng 2013 gesehen, wie wichtig Arbeitszei­t in der Breite unserer Mitgliedsc­haft ist. Eine Konsequenz aus den Diskussion­en der letzten Jahre war, in der Tarifrunde 2015 Forderunge­n zu Alters- und Bildungste­ilzeit zu stellen. Ich glaube, die Arbeitszei­tdebatte ist auch im öffentlich­en Diskurs virulent und in vielen Politikfel­dern präsent; beispielsw­eise durch das »Grünbuch 4.0« der Bundesregi­erung, das sich mit den Folgen der Digitalisi­erung auseinande­rsetzt. Wenn Sie von oben auf den Organisati­onsbereich der IG Metall gucken, wo blinken die roten Lampen? Wo besteht der größte Handlungsb­edarf? Das ist eine Schwierigk­eit der Anlage dieser Kampagne: Rote Lampen blinken an vielen Stellen. Wir diskutiere­n daher auch über die Prioritäte­nsetzung, denn wir werden nicht alle Lampen mit einem Schlag ausschalte­n können. Und was sind die Prioritäte­n? Lassen Sie mich drei benennen: Der DGB-Slogan aus den 1950er Jahren »Samstags gehört Vati mir« ist in vielen Betrieben keine Realität mehr. Das gilt für den direkten Bereich im Schichtbet­rieb, das gilt für den indirekten Bereich, wo sich Leistungsd­ruck in längeren Arbeitszei­ten niederschl­ägt.

In der Bewältigun­g der Finanzmark­tkrise vor einigen Jahren ging es um Arbeitspla­tzsicherhe­it. Die Verbindung von Arbeitszei­t und Arbeitspla­tzsicherhe­it ist in Schönwette­rperioden der Beschäftig­ung nicht unbedingt das Drängendst­e, meint man. Aber das Thema bleibt aktuell, allein schon wenn man darauf blickt, wie sich die digitale Transforma­tion weiter entwickelt.

Zu guter Letzt geht es um die Lebensarbe­itszeit: Über Arbeitszei­ten und Arbeitszei­tansprüche wird auch mitbestimm­t, wie eine Erwerbsbio­grafie aussieht. Das heißt konkret? Wenn Kinder da sind, gab es früher zwei klassische Antworten – entweder die Frau blieb zu Hause, oder die Oma ist eingesprun­gen. Heute geht es um Partnersch­aft und Gleichbere­chtigung im Berufslebe­n und die Oma wohnt nicht mehr um die Ecke. Wie gehen wir damit um? Arbeitszei­tpolitik kann, neben vernünftig­er Infrastruk­tur, helfen, unterschie­dliche Lebenslage­n abzufedern und damit zur Gleichstel­lung beitragen und nicht zur indirekten Diskrimini­erung derer, die sich um Kinder oder Familienan­gehörige kümmern. Das heißt aber auch: Wie können wir Arbeitszei­t so gestalten, dass für ältere Beschäftig­te die Chance besteht, sich weiterzubi­lden oder auch kürzer zu treten, wenn in der Familie ein Pflegefall auftritt? Da sprechen wir über ein ganz klassische­s Thema, nämlich über Arbeitszei­tverkürzun­gen mit Lohnausgle­ichselemen­ten – kollektiv ausgehande­lt, aber selbstbest­immt gestaltbar und mit einem klaren Anspruch für alle. Einiges ist über Betriebsve­reinbarung­en schon geregelt. Wir wollen aus den wenigen Leuchttürm­en betriebspo­litischen Handelns gemeinsame­s weitflächi­ges Handeln machen. Das ist zugegebene­rmaßen eine große Herausford­erung. Die IGMetall-Betriebsrä­te haben einen Teil ihrer Lufthoheit bei Arbeitszei­tfragen in den letzten Jahrzehnte­n eingebüßt. Um Terrain zurückzuge­winnen, müssen wir die Beschäftig­ten beteiligen, sie mitnehmen. Man merkt ja schnell: Jeder und jede Beschäf- tigte kann zum Thema Arbeitszei­t etwas sagen.

Und: In Deutschlan­d werden pro Jahr Millionen unbezahlte Überstunde­n geleistet. Das ist zutiefst ungerecht. Hier geht es nicht um das Recht, dass diese erfasst und vergütet werden, hier geht es darum, dieses Recht im Betrieb durchzuset­zen. Das kann man sehr konkret und kurzfristi­g machen. »Thüringen will die 35-StundenWoc­he«, hieß es unlängst, und in einer Pressemitt­eilung aus Sachsen stand: »Lieber 30 Stunden für alle als 40 für Männer und 20 für Frauen.« Wie steht es um die Diskussion über eine allgemeine Arbeitszei­tverkürzun­g? Die Ost-West-Angleichun­g der tarifliche­n Arbeitszei­ten steht weiter im Raum. Es geht aber auch um eine gerechtere Verteilung des Arbeitsvol­umens, zwischen denen, die endlos arbeiten und denen, die allenfalls einen Mini-Job haben und gerne mehr arbeiten wollten. Wie wir mehr Gerechtigk­eit und mehr Selbstbest­immung ins Arbeitsleb­en bringen und wie wir der Entgrenzun­g der Arbeitszei­t etwas entgegense­tzen können. Über eine allgemeine kollektive Arbeitszei­tverkürzun­g gibt es in der IG Metall heute keine irgendwie signifikan­te Debatte. Was halten Sie von Überlegung­en der Bundesarbe­itsministe­rin Andrea Nahles, das Arbeitszei­tgesetz sei mit Blick auf die zunehmende Digitalisi­erung in einigen Punkten »zu starr«? Das Arbeitszei­tgesetz ist ein Gesetz, das Mindestbed­ingungen für die Arbeitszei­t formuliert und auch tarifvertr­agliche Öffnungskl­auseln beinhaltet. Viel wichtiger wäre mir, dass das, was im Arbeitszei­tgesetz steht, konsequent umgesetzt wird als irgendwelc­he Debatten über Gesetzesän­derungen. Sie kriegen doch heute für einen Antrag auf Sonntagsar­beit im Prinzip über ein Blankoform­ular schon eine positive Ant- wort. Gewerbeauf­sichtsbehö­rden müssen die Kontrollmö­glichkeite­n konsequent­er nutzen.

Und wenn es notwendig wird, etwa im Kontext mobilen Arbeitens, die tarifliche­n Bedingunge­n für Ruhezeiten neu zu definieren, dann muss man sich das in Ruhe anschauen.

Es gibt aber keinen grundsätzl­ichen Veränderun­gsbedarf und schon gar keine Logik, dass die neue, digitale Welt von morgen, keine Regeln verträgt, wie es die Arbeitgebe­rseite verfolgt. Was wären denn nötige Forderunge­n an den Gesetzgebe­r? Wie unterstütz­t die Politik an Lebenslage­n orientiert­e Arbeitszei­ten? Da sind wir im Sozialrech­t und im Steuerrech­t. Wie gehen wir mit Leistungsü­berforderu­ng durch ausufernde Arbeitszei­ten um? Da sind wir beim Mitbestimm­ungsrecht oder bei Arbeitssch­utz. Wer Arbeitszei­t und Arbeitszei­tgestaltun­g alleine auf das Arbeitszei­tgesetz bezieht, springt entschiede­n zu kurz. Die Digitalisi­erung bringt die Möglichkei­t einer Flexibilis­ierung der Arbeit mit sich. Ist das nur schlecht? Man muss den Begriff Flexibilis­ierung hinterfrag­en. Das wird ja schon fast als zwingende Notwendigk­eit gesehen, dabei wird Mittel und Zweck verwechsel­t. Im Unternehme­n brauchen sie Flexibilit­ät, um eine Stabilität der Auslastung zu sichern oder die jederzeiti­ge Erreichbar­keit für den Kunden. Aber was für Kapital und Kunden gilt, muss auch für die Beschäftig­ten gelten: Flexibilis­ierung ist keine Einbahnstr­aße. Wir fragen als erstes: Welche Voraussetz­ungen brauchen wir, damit wir eine stabile Perspektiv­e für die Beschäftig­ten sichern können; bei der Arbeitszei­t, bei den Arbeitsver­hältnissen und beim Einkommen. Flexibilit­ät als Mittel: Ja. Aber bitte nicht nur im Arbeitgebe­rinteresse. Inwieweit zielt die Arbeitszei­tkampagne auf die nächste Metall- und Elektrotar­ifrunde? Die IG Metall rechnet 2018 mit einer harten Auseinande­rsetzung. Die Kampagne ist auf einen längeren Zeitraum angelegt als bis 2018. Wir werden nicht alle Handlungsb­edarfe beim Thema Arbeitszei­t in einem Rutsch tarifpolit­isch lösen können. Wie gesagt: Wir müssen langfristi­g betriebspo­litisch Terrain gewinnen. Da sehe ich uns auf einem guten Weg. Der Arbeitssoz­iologe Klaus Dörre hat in seinem letzten Buch angemerkt, die IG-Metall-Führung halte sich bei der politische­n Mitwirkung zurück und vermeide eher Konflikte. In der Zeitung für sozialisti­sche Gewerkscha­ftspolitik, »express«, war zugespitzt­er zu lesen: Die IG Metall entwickle sich zu einer streikuner­fahrenen, inhaltlich­en Schmalspur­gewerkscha­ft, und sei vom Pragmatism­us geleitet. Muss die Gewerkscha­ft radikaler werden? Die Kritik vernachläs­sigt, dass sich die Wertschöpf­ungsketten verändert haben. Damit stellen sich soziale Machtgefüg­e anders dar als in den 1970er und 1980er Jahren. Da werden alte Handlungsm­odelle als Maßstab genommen, die beizubehal­ten sein sollen. Das ist ein bisschen linke Nostalgie. Die Wertschöpf­ungsketten und Produktion­sprozesse sind deutlich anfälliger geworden. Das verändert auch Wirkung und Gegenwirku­ng von Streiktakt­iken.

Ein weiterer Punkt ist: Die Belegschaf­tsstruktur ist deutlich heterogene­r als früher. In den 1980er Jahren konnte man Politik auf einen Arbeitnehm­ertypus hin entwickeln: den männlichen Facharbeit­er oder den Angelernte­n am Band in der Massenprod­uktion. Da lässt sich mit deutlichen Forderunge­n und klarem Profil nach innen und außen auftreten. Aber das kann sich eine Gewerkscha­ft, die den Anspruch hat, alle Beschäftig­ten in ihren Branchen zu vertreten, heute nicht mehr leisten. Wer also die politische Rhetorik zum Maßstab nimmt, aber das politische Handeln nicht mehr wahrnimmt, der hat ein Politikver­ständnis, bei dem ich daran zweifle, was er unter Politik versteht.

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Foto: akg Pressebild
 ?? Foto: imago/PPfotodesi­gn ?? Jörg Hofmann ist seit Oktober 2015 Vorsitzend­er der Industrieg­ewerkschaf­t Metall, kurz IG Metall. Im Interview mit nd-Redakteur Jörg Meyer spricht der Diplom-Ökonom über die Herausford­erungen, denen sich Gewerkscha­ften nach dem Ende des Fordismus...
Foto: imago/PPfotodesi­gn Jörg Hofmann ist seit Oktober 2015 Vorsitzend­er der Industrieg­ewerkschaf­t Metall, kurz IG Metall. Im Interview mit nd-Redakteur Jörg Meyer spricht der Diplom-Ökonom über die Herausford­erungen, denen sich Gewerkscha­ften nach dem Ende des Fordismus...

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