Ein neuer Traum
»Olympiasiegerin werden!« – dieser Traum begleitet Julija Stepanowa fast das ganze Leben. Anfangs half der Leichtathletin der Gedanke an diesen unvergleichlichen Erfolg: Er war Antrieb, dem elterlichen Haus in Kursk zu entkommen. Der Vater war alkoholkrank und ließ seine Aggressionen an Julia und ihrer Mutter aus.
Später trieb sie diese Sehnsucht ins Verderben: Im Jahr 2013 wurde die 800-Meter-Spezialistin wegen Dopings für zwei Jahre gesperrt. Auch ihre Ehe mit Witali wäre fast gescheitert. Dass Julija nach jahrelanger Praxis im russischen Sportsystem Leistungssteigerungen durch unerlaubte Mittel als vollkommen normal empfand, wollte Witali nicht akzeptieren.
Seit drei Jahren kämpfen beide gemeinsam gegen Doping. Ausgerechnet jetzt erfuhr Julijas olympischer Traum mit dem Startverbot für Rio die größte Enttäuschung: Weil sie und ihr Mann viel riskiert hatten, um den »größten Dopingskandal aller Zeiten«, wie die Welt-Antidoping-Agentur den systematischen und staatlich geschützten Sportbetrug in Russland nennt, aufzudecken. Witali konnte als ehemaliger Mitarbeiter der russischen Antidoping-Agentur tiefe Einblicke in das System geben. Julija lieferte mit heimlichen Tonund Bildaufnahmen von Gesprächen mit russischen Sportlern, Trainern, Ärzten und Dopingkontrolleuren wichtige Beweise.
Julija Stepanowa darf dennoch nicht in Rio laufen. Das Internationale Olympische Komitee behandelt sie wie jeden anderen russischen Sportler: Wer beim Doping ertappt wurde, darf nicht teilnehmen. Das nötige Geld, um dagegen zu klagen, hat sie nicht. »In meinen Augen verdient sie es mehr Olympionikin zu sein, als zu Zeiten, als sie eine gedopte Athletin war«, sagt Witali. So sieht es auch die große Mehrheit der Sportwelt.
In Russland gelten die Stepanows als Verräter. Deshalb leben sie mit ihrem zweijährigen Sohn Robert mittlerweile an einem geheimen Ort in den USA. »Es ist okay, einen guten Kampf zu verlieren«, sagt Witali. Beide freuen sich über die weltweit große Unterstützung, durch die vielleicht ein anderer Traum wahr werden könnte: ein neues Leben.