Hundertjährige gesünder als erwartet
Heidelberger Gerontologen sehen Chancen für mehr Lebensqualität durch gezieltes Training
Fast alle deutschen Hundertjährigen leiden unter Hör- und Seheinschränkungen. Doch unterm Strich sind sie gesünder als erwartet, wie eine Studie ergab.
Menschen, die über 80 Jahre oder älter sind, stellen in den meisten Ländern die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe dar. Die Anzahl der deutschen Hundertjährigen ist zwischen 2000 und 2011 von 5937 auf 13 445 gestiegen, was einer Zunahme von 126 Prozent entspricht. Scherzhaft werden die »100« oft als ein Ziel formuliert, aber in Wahrheit ist die Mehrheit der Älteren sich unsicher, ob sie dies Alter tatsächlich erreichen will.
Gerontologen der Universität Heidelberg haben nun herausgefunden, dass mit einem optimierten Krankheitsmanagement im Schmerzbereich sowie Präventivmaßnahmen etwa bei Gangsicherheit, Gleichgewichtssinn und Beweglichkeit die Lebensqualität Hundertjähriger durchaus verbessert werden kann. Dazu haben Studien- leiterin Prof. Dr. Daniela Jopp und Kollegen zunächst die Zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie ausgewertet. Die Ergebnisse der Auswertung zeigen, dass sehr alte Menschen mit durchschnittlich fünf akuten oder chronischen Erkrankungen gesundheitlich stark belastet sind. Mit 94 Prozent litten fast alle deutschen Hundertjährigen unter Hör- und Seheinschränkungen.
Am zweithäufigsten mit 72 Prozent Mobilitätsprobleme vor, wobei mehr als 70 Prozent der Befragten von mindestens einem Sturz seit ihrem 95. Lebensjahr berichteten. Danach folgen Erkrankungen des Bewegungsapparats und Arthritis. Überraschend zeigten nur 33 Prozent eine stark eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit oder Demenz. Potenziell lebensgefährliche Krankheiten wie Schlaganfall oder Krebs kamen eher selten vor – eine Ausnahme bilden Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Darunter leiden etwa zwei Drittel der Hundertjährigen. Mit anderen Worten: 67 Prozent der Hundertjährigen sind von keiner Krankheit mit besonders hohem Sterblichkeitsrisiko be- troffen. Über häufige Schmerzen klagte ein Drittel der Befragten, 36 Prozent gaben eine Schmerzintensität an, die höher als »erträglich« war.
»Die Tatsache, dass eine beträchtliche Anzahl der Hundertjährigen an Schmerzen leidet, ist besorgniserregend und verdient mehr Aufmerksamkeit«, betont Daniela Jopp. Unklar ist nach ihren Worten, ob die behandelnden Ärzte nicht ausreichend über die Schmerzen informiert sind oder ob Medikamente nicht richtig wirken. Es sei wichtig, dass Ärzte in diesem Bereich gezielt nachfragten. Um die Mobilität der Hochaltrigen zu verbessern, schlagen die Wissenschaftler die präventive Stärkung der Fitness über gezielte Programme vor.
Wandern oder Spazierengehen sehen sie zwar als nützlich an, ideal seien jedoch individuell abgestimmte Bewegungsempfehlungen. Besonders wichtig sind nach den Worten von Dr. Christoph Rott, Co-Autor der Veröffentlichung, Übungen zur Stärkung der Beinmuskulatur und des Gleichgewichtssinns. In vielen SeniorenSportgruppen wird das bereits trainiert; die Ermutigung zu sportlicher Aktivität Hochbetagter durch Ärzte und Angehörige ist jedoch noch viel zu gering.
Mit Blick auf einen Rückgang des Seh- und Hörvermögens schlagen die Gerontologen vor, die technischen Hilfsmittel wie Hörgeräte und Brillen häufiger zu kontrollieren. »Auch im hohen Alter verändern sich die Fähigkeiten, und eine regelmäßige Anpassung kann den Menschen einen besseren Zugang zum Alltagsleben und zur Teilhabe zu ermöglichen«, sagt Daniela Jopp. »Dies ist vor allem wichtig, weil diese Einschränkungen häufig gravierende Folgen für die Lebensqualität haben – bis hin zu Depressionen.«
Die Studie bestätigt auch, dass mehr Ältere nicht automatisch höhere Kosten verursachen. Die rund sechs zusätzlichen Lebensjahre, die seit 1965 für den Durchschnittsdeutschen dazukamen, sind nicht sechs zusätzliche Jahre mit vielen teuren Krankheiten. Vielmehr hat sich gezeigt: Die höchsten Behandlungskosten fallen im letzten Jahr vor dem Tod an. Dabei ist es nicht ausschlaggebend, ob dies mit 72 oder 82 Jahren geschieht.