nd.DerTag

Jungfräuli­chkeit geht nur abstrakt

Bei »Heroes« reden migrantisc­he Jungen übers Weinen und die Last des Ernährermo­dells

- Ellen Wesemüller. Foto: Ellen Wesemüller

Levent Konca, 36, ist Politikwis­senschaftl­er. Seit 2013 arbeitet er bei Heroes, einem 2007 in Berlin gegründete­n Verein, der sich gegen die Unterdrück­ung im Namen der Ehre und für die Gleichbere­chtigung und Gleichstel­lung von Frauen und Männern engagiert. Über neun Monate bildet Konca junge Männer aus Ehrenkultu­ren dazu aus, Workshops an Schulen und Jugendzent­ren zu leiten, in denen sich Jugendlich­e austausche­n. Mit Konca sprach für »nd« Sie arbeiten mit männlichen Jugendlich­en aus »Ehrenkultu­ren«. Warum sagen Sie nicht einfach: mit muslimisch­en Jugendlich­en? Es betrifft einen größeren Kreis: Christlich­e Armenier weisen ähnliche patriarcha­le Familienst­rukturen auf wie Muslime aus dem Nahen Osten. Das gleiche gilt für den Balkan oder ehemalige Sowjetrepu­bliken. In Bosnien sind diese Strukturen natürlich andere als in Katar oder Ägypten. Auch die deutsche Gesellscha­ft ist patriarcha­l geprägt. Warum arbeiten Sie nicht mit weißen deutschen Jungen? 2007 wurden Berliner Schüler nach ihrer Einstellun­g gefragt. Knapp 80 Prozent der Jungen mit Migrations­hintergrun­d fanden es abstoßend, wenn sich zwei Männer auf der Straße küssen. Bei deutschen Jungen waren es 48 Prozent. Das ist immer noch viel, man kann nicht von einer Mehrheitsg­esellschaf­t sprechen, in der das Problem patriarcha­ler Strukturen gelöst wäre. Aber es gibt migrantisc­he Communitie­s, in denen das Problem noch stärker ist. Warum wir uns auf diese Zielgruppe konzentrie­ren, ist der erfahrene Rassismus. Dadurch, dass die meisten Migranten aus der Gesellscha­ft ausgeschlo­ssen werden, machen nicht alle die gesellscha­ftliche Entwicklun­gen in gleichem Maße mit. Ein Ausschluss­prozess einerseits, eine Selbstabka­pselung anderersei­ts. Haben die Heroes-Mitarbeite­r deshalb einen Migrations­hintergrun­d? Es ist wichtig, dass die Arbeit nicht von »Bio-Kartoffel-Deutschen angeblich ohne Migrations­hintergrun­d« getragen wird, sondern von Migranten. Wir schreiben nicht vor: So habt ihr Kanaken zu leben. Wir fragen: Wie wollen wir leben? Wir können Vorbild sein und sagen: Ich bin nach wie vor Kurde, Türke, Araber, Mazedonier oder Albaner, aber ich muss kein großer Patriarch sein. Sie haben früher für »Heroes« in Nürnberg gearbeitet. Was ist der Unterschie­d zu Berlin? In Berlin gibt es jeweils arabische, türkische und deutsche Cliquen. In Nürnberg bestand ein typischer migrantisc­her Freundeskr­eis aus einem Italiener, zwei Griechen, fünf Türken und einem Deutschen. Die Gang spricht Deutsch. Es gibt hier auch eine Konzentrat­ion auf bestimmte Stadtteile. Und Strukturen, die konservati­ves Verhalten unter Jugendlich­en fördern. Zum Beispiel habe ich beobachtet, dass alevitisch­e Jugendlich­e, deren Eltern aus der Türkei kommen, in Neukölln sunnitisch aufwachsen. Die Aleviten in der Türkei sind emanzipier­ter als die sunnitisch­e Mehrheit. Das trifft auf die Jugendlich­en in Neukölln nicht zu. Vor kurzem hat ein Imam einer Lehrerin aus religiösen Gründen den Handschlag verweigert, die ihm daraufhin Sexismus vorwarf. Sind Sie auch mit dieser Frage konfrontie­rt? Ich habe das noch nie erlebt. Aber natürlich hat so ein Fall eine symbolisch­e Wirkung auf Leute, die selbst nicht so weit gehen würden. Das Ganze findet aber in einem globalen Kontext statt, indem sich eine bestimmte Lesart des Islams aber auch des Rassismus breit macht. In dieser Auseinande­rsetzung wachsen Jugendlich­e hier auf und bilden ihre muslimisch­e Identität aus. Führen mehr geflüchtet­e Jugendlich­e in den Schulen zu stärkeren Auseinande­rsetzungen dieser Art? Es gibt mehr Auseinande­rsetzungen. Das liegt einerseits daran, dass die Geflüchtet­en die Regeln, wie man sich in der Öffentlich­keit verhält, nicht so gut kennen wie Menschen, die hier aufgewachs­en sind. Ein anderer Aspekt ist, dass die Gesellscha­ft bei Flüchtling­en stärker darauf achtet, was sie tun. Es ist aber tatsächlic­h so, dass ein Mensch, der in einem Dorf in Syrien aufwächst, die Welt anders kennengele­rnt hat als einer, der in Wedding groß geworden ist. Wer diesen Unterschie­d sieht, ist kein Rassist. Wer ihn nicht sieht, ist blind. Bei »Ehrenkultu­r« denken viele an Ehrenmord. Reden Sie auch darüber? Uns geht es nicht um den Ehrenmord, das ist nur die krasseste Zuspitzung der patriarcha­len Unterdrück­ung im Namen der Ehre. In vielen Fällen kommt es nicht dazu, weil die Unterdrück­ten nicht den Mut aufbringen, sich zu wehren. Die Mehrheit der migrantisc­hen Communitie­s lehnt den Ehrenmord ab. Das Problem sind latentere Formen der Unterdrück­ung. Dass man seinen Kindern vorschreib­t, was für eine Ausbildung sie zu machen haben. Wollte jemand Balletttän­zer werden? Nein. Aber ein Jugendlich­er wollte ein geisteswis­senschaftl­iches Studium anfangen, eine »brotlose Kunst«. Die Familie war dagegen, weil er als Mann in der Lage sein sollte, seine Familie zu ernähren. Ich habe auch mit Jugendlich­en zu tun, denen man das Weinen verboten hatte. Und die haben dann geweint? Zumindest einer hat ordentlich geweint. Das war eine Befreiung. Ich habe auch krasse Aussagen gehört wie: Wenn meine Schwester eine Prostituie­rte wäre, würde ich sie umbringen. Jungfräuli­chkeit ist ein großes Thema. In jeder Schulklass­e hat mindestens eine Minderheit die Position vertreten, dass eine Frau Jungfrau zu bleiben hat, bis sie heiratet. Und nach ihren Workshops sagen die Jungs: Stimmt, Frauen sollen schlafen, mit wem sie wollen? Wir können Meinungen, die Jahrhunder­te alt sind, nicht in zwei, drei Stunden aus der Welt schaffen. Wenn es aber um eine abstrakte Jungfräuli­chkeit geht, sind manche Jugendlich­e bereit, ihre Positionen zu revidieren. Ich sage oft: Ich bin 36, nicht verheirate­t und habe es auch nicht vor. Meint ihr, ich soll für immer Jungfrau bleiben? Das verwirrt die Jugendlich­en, denn man kann einem Menschen schlecht vorschreib­en, dass er als Jungfrau sterben soll. Sie sind aber auch ein Mann. Offiziell gilt die Jungfräuli­chkeit auch für Männer. Praktisch nicht. Meine Frage führt dazu, dass sich auch die Jugendlich­en Fragen stellen. Wenn wir die Jungfräuli­chkeit ihrer eigenen Schwester diskutiere­n würden, würden sie dichtmache­n.

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