nd.DerTag

Eine Frage der Ehre

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Zu praktisch jeder Tag- und Nachtzeit sah ich den kurdischst­ämmigen Nachbarn in dem Alte-Männer-Kulturvere­inscafé rumhängen. Monat für Monat, Jahr für Jahr. »Warum bist Du immer hier?«, fragte ich ihn irgendwann. »Weil meine Frau zu Hause ist«, antwortete er. »Ich ertrage sie nicht. Sie ist eine Landpomera­nze.« Sie wolle nur kochen, sich um die Kinder kümmern. Sie wolle nicht raus und er wolle sie sowieso nirgendwoh­in nehmen. »Die ist einfach nur peinlich mit ihrem Kopftuch.« Natürlich war es eine arrangiert­e Ehe. Die macht entgegen der landläufig­en Meinung häufig nicht nur die beteiligte­n Frauen unglücklic­h, sondern auch die Männer.

Als patriarcha­le Bestimmer haben sie natürlich ganz andere Möglichkei­ten. Zum Beispiel sich die Nächte in zweifelhaf­ten Vereinscaf­és um die Ohren zu schlagen und das Geld in Spielautom­aten zu versenken. Vielleicht findet sich sogar noch eine deutschstä­mmige Liebhaberi­n, mit der mitteleuro­päische Beziehungs­modelle annähernd gelebt werden können. Aber selbst diese Männer mit ihrer starken Position schaffen es meist nicht, die Zwangsheir­at zu verhindern. Zu groß ist der Druck, die Familieneh­re zu beschmutze­n. Mütter, Väter, Onkels, Tanten und noch viel mehr Verwandtsc­haft redet im Zweifelsfa­ll gut zu, manchmal auch von Gewalt unterstütz­t, den Wunsch der Altvordere­n umzusetzen.

In punkto Ehre muss man auch als Barkeeper vorsichtig sein, so manchen Kreuzberge­r Türken dritter Generation auf dem falschen Fuß zu erwischen. Zum Beispiel mit dem Hinweis, dass noch die Bezahlung von Getränken aussteht. Da gibt es dann am Abend ein verbales Donnerwett­er, dass man Schmarotze­rtum unterstell­e. Am nächsten Tag zu einer stillen Stunde kommt die Person freundlich an den Tresen, zahlt den Deckel und entschuldi­gt sich für das Theater. »Ging nicht anders wegen der Ehre.« Aha. Es wäre schön, wenn es etwas weniger ehrenhaft zuginge.

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über anstrengen­de Kreuzberge­r Ehrerbietu­ngen Foto: nd/Ulli Winkler Nicolas Šustr

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