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Eine Stadt sucht ihren ungeliebte­n Ehrenbürge­r

Zum 125. Geburtstag von Johannes R. Becher befasst sich eine Ausstellun­g mit dessen Spuren im thüringisc­hen Jena

- Von Doris Weilandt

Am 22. Mai wäre der Dichter und DDR-Kulturfunk­tionär 125 Jahre alt geworden. Im thüringisc­hen Jena, wo sich der junge Becher nach schwerer Krise einst wiederfand, ist eine Ausstellun­g über ihn zu sehen. Mancher wird sich erinnern: Die bekannte Johannes R. Becher-Büste von Fritz Cremer, einst als Geschenk von der Witwe an die Stadt Jena überreicht, verschwand um das Jahr 2003 – von den Beschenkte­n unbemerkt. Zuvor war der Porträtkop­f bereits von Sträucher überwucher­t. Niemand hatte sich zu Becher (1891 bis 1958) bekennen wollen, obwohl der Jenaer Stadtrat seinerzeit mit einer Stimme Mehrheit für seinen Verbleib auf der Ehrenbürge­rliste votierte.

Jahre später befasst sich nun eine Ausstellun­g im Jenaer Romantiker­haus mit den Spuren des Dichters und DDR-Kulturfunk­tionär in der Saalestadt, Anlass ist Bechers 125. Geburtstag in diesem Jahr. »Becher hat sich aus dem Staube gemacht, weil keiner ihn mehr versteht«, vermerkt hintersinn­ig Jens-Fietje Dwars, BecherBiog­raf, Filmautor und Kurator der Ausstellun­g, zum Verschwind­en der Büste.

Doch die »Geschichts­entsorgung« ging noch weiter: Es gab nicht nur keinerlei Bemühungen, den Verlust zu ersetzen. Die Stadt beauftragt­e sogar eine Firma mit der Beseitigun­g des Sockels, der mit seiner Inschrift Teil des Kunstwerks war. Dwars fand den Sockel später im Garten eines Ortsteilbü­rgermeiste­rs, der ihn vor der vollständi­gen Vernichtun­g bewahrt hat. In der aktuellen Ausstellun­g führt nun ein Plattenweg zu diesem Sockel ohne Büste, der rechts und links von einem Ficus flankiert wird.

Hinter dem Kulturfunk­tionär Becher ist heutzutage der Dichter vollständi­g verschwund­en. In Jena gibt es keine Becher-Schule mehr, keine Becher-Festwochen und kein Becher-Stipendium.

Bechers frühe expression­istischen Gedichte, 1914 als Sammelband »Verfall und Triumph« erschienen, hatten seinerzeit großes Interesse unter Intellektu­ellen erregt. Kunstmäzen Harry Graf Kessler entdeckte den Hochbegabt­en und förderte des- sen Talent. Kessler schreibt: »Er hat (…) den absolut eigenen Sprachrhyt­hmus, die neue Stimme, den neuen Klang, der plötzlich da ist, wenn ein Großer da ist (…)«

Das hatte seinen Preis. Becher war morphiumsü­chtig. Mit dem Geld, das der Mäzen ihm verschafft­e, sollte er in der Psychiatri­schen Klinik von Binswanger in Jena seine Abhängigke­it loswerden. Von 1916 bis 1918 – in dieser Zeit wurden seine Gedichte verboten – kämpfte er sich aus der Sucht, indem er seine wilhelmini­sch geprägte Kindheit aufarbeite­te. Auf einem Foto ist ein sensibler, junger Mann zu sehen, der freundlich in die Ferne blickt. Mit dem Ge-

Mit dem Gedicht »Jena 1917 Sommer« setzt Becher einer neu gewonnenen Liebe ein Denkmal.

dicht »Jena 1917 Sommer« setzte er seiner neu gewonnenen Liebe ein Denkmal. Ein Jahr später bewarb sich Becher an der Universitä­t Jena für ein Medizinstu­dium. Das dafür nötige polizeilic­he Führungsze­ugnis konnte er aber nicht beibringen. Die Stadt, in der er sich selbst wiederfand, hat Die Ausstellun­g »Fahndung nach einem Ehrenbürge­r: Johannes R. Becher in Jena« ist noch bis zum 6. November im Romantiker­haus Jena, Unterm Markt 12a, zu sehen.

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Foto: Literaturm­useum Romantiker­haus Johannes R. Becher vor der Psychiatri­e in Jena

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