Der Einzelne sollte mehr im Fokus stehen
Hansi Flick über mangelhafte Nachwuchsarbeit, Problempositionen im deutschen Fußball und Lehren aus der EM
DFB-Sportdirektor Hansi Flick fordert, in der Nachwuchsentwicklung mehr auf die individuellen Fähigkeiten der Spieler zu achten. Die Spielidee der Nationalmannschaft soll sich dagegen nicht ändern. Seine Popularität ist inzwischen dermaßen groß, dass er die Kaffeepause bei öffentlichen Auftritten kaum mehr nutzen kann: Hansi Flick erfüllt in Fulda zwischen einem Eins-zu-EinsTalk und einer Podiumsdiskussion auf dem Internationalen Trainerkongress etliche Autogramm- und Fotowünsche. Zum Abschluss der dreitägigen Fortbildungsveranstaltung des Bundes Deutscher Fußballlehrer beantwortete der 51-jährige Sportdirektor des Deutschen Fußball Bundes (DFB) die drängenden Fragen zur Ausrichtung des deutschen Fußballs. Zu den Lehren der EM »Wir haben uns bei der EM wieder an der Spitze bewegt, aber ganz oben wird die Luft dünn. Wir können nicht einfach sagen, wir sind Weltmeister und alles ist top. Wir tun gut daran, uns immer anzutreiben, den deutschen Fußball noch besser zu machen. Bei der EM haben sich die meisten Gegner kompakt verbarrikadiert. Gerade unter Druck braucht es mehr Lösungen und Optionen. Bei uns kam häufig der letzte Pass nicht an. Die Zahl der angekommenen Flanken lag bei einer einstelligen Prozentzahl – das darf nicht sein.« Zur Diskussion um fehlende Mittelstürmer »Ich halte es für fehl am Platze, nun allein zu folgern, es braucht mehr Mario Gomez und weniger Mario Götze. Der Mittelstürmer ist eine Option – er reicht aber auch nicht alleine. Die Spielidee der Nationalmannschaft bleibt der Ballbesitz. Vielleicht muss man noch mehr Wert darauf legen, Tore in Überzahlsituation so schnell wie möglich zu erzielen.« Zu den Problempositionen im deutschen Fußball »Es kommt auf allen Positionen was nach, da kann ich beruhigen. Der U19-Nationalspieler Janni Serra von Borussia Dortmund ist beispielsweise ein sehr begabter Stoßstürmer. Generell wird in der Bundesliga, in den Nachwuchsleistungszentren und an der Basis gute Arbeit gemacht.« Zu den Erkenntnissen der U19-Europameisterschaft und den Mängeln in der Nachwuchsförderung »Die französische U19-Nationalmannschaft hat als Europameister nicht nur durch die starke Mentalität beeindruckt, sondern auch durch enorme Geschwindigkeit und ungeheure Dynamik. Auch wenn die französischen Talente teilweise genetisch andere Voraussetzungen besitzen, dürfen wir uns nicht zurücklehnen. Unserer U19-Nationaltrainer Guido Streichsbier hat beispielsweise beim FC Valencia beobachtet, wie sehr dort bei den 13 und 14-Jährigen Wert darauf gelegt wird, die einzelnen Spieler zu entwickeln. In Deutschland dagegen geht es in diesen Altersklassen schon um Punkte, und nach vier Niederlagen kommt der Anruf vom Leiter des Nachwuchsleistungszentrums, was denn mit der Mannschaft los ist. Und vielleicht müssen wir uns auch fragen, ob bei uns Zwölfjährige schon perfekt verschieben lernen müssen.« Zum alarmierenden Rückgang bei den A- und B-Junioren von 14 Prozent in den letzten fünf Jahren »Wir kennen diese Zahlen. Trotzdem mache ich mir keine Sorgen. In einem gewissen Alter ändert sich das Freizeitverhalten, wir können da nur mit guten Trainern und Voraussetzungen in den Vereinen gegensteuern. Und indem wir mit der Nationalmannschaft Idole bieten, die von den Jugendlichen angehimmelt werden.« Zum Entschluss von Joachim Löw, bis 2018 weiterzumachen »Es ist gut, dass er sich zum Weitermachen entschieden hat. Es gibt keinen Besseren. Er hat die Mannschaft entwickelt und geformt und hat den Drive, in Russland wieder etwas zu bewegen. Außerdem ist Bundestrainer ja auch kein so schlechter Job.« Zu taktischen Fragen wie der Dreierkette in Abwehr »Mit den zur Verfügung stehenden Innenverteidigern bleibt das ein pro- bates Mittel, Jogi Löw will dort Variabilität. Und die Dreierkette war ein probates Mittel, um auf das italienische System mit zwei klassischen Stürmern zu reagieren. Letztlich ist das EM-Viertelfinale gewonnen worden. Die Kritik, die vor allem Mehmet Scholl vorgetragen hat, dass wir unsere eigene Spielidee außer Acht lassen, habe ich ihm verziehen. Ich weiß, wie emotional er manchmal reagiert.« Zu den Einsatzzeiten von Leroy Sane und Thomas Müller »Im Nachhinein lässt sich vieles leicht sagen, der eine hätte mehr, der andere weniger spielen sollen. Das Trainerteam hat bei der EM schon genau hingeschaut, wer sich im Training in welcher Form präsentiert hat – der Bundestrainer hat genau gewusst, was er macht. Was Thomas Müller betrifft: Er wird immer ein Spieler sein, der mit seinen Laufwegen von außen oder hinten den Spitzen gefährlich bleibt. Aber vielleicht ist er einer, der nicht im Zentrum spielen sollte. Ich hoffe für ihn, dass er in der neuen Saison schnell die Hütte trifft.«