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Pegasus ist kein Schlachtro­ss

Der Friedensri­tt 2016 unterstütz­t den Widerstand gegen den Militärübu­ngsplatz in der Colbitz-Letzlinger Heide

- Von Hendrik Lasch, Gardelegen

Seit mehr als 30 Jahren ist der Friedensri­tt fester Bestandtei­l der deutschen Friedensbe­wegung. Dieser Tage hilft er in der Altmark beim Protest gegen ein Übungszent­rum der Bundeswehr.

Pferde lieben reife Pflaumen. Besonders, wenn sie genau vor der Nase im Geäst hängen. Also wird kurz und beherzt zugeschnap­pt, bevor wieder jemand im Sattel sitzt. Zora, Snüdi & Co., die vierbeinig­en Mitwirkend­en beim Friedensri­tt 2016, dürften die Isenschnib­be wegen der Früchte in bester Erinnerung behalten.

Für ihre Reiterinne­n aber ist es ein schwererer Gang. Dabei ist die Szenerie eigentlich idyllisch: in der Sonne wogende Kornfelder; Alleen, gesäumt von Obstbäumen. Dazwischen allerdings: ein Feld voll weißer Kreuze. Sie erinnern an 1016 Menschen, die vor 71 Jahren an dieser Stelle auf bestialisc­he Weise ermordet wurden. Häftlinge aus Mittelbau-Dora und anderen KZ-Außenlager­n, auf den Todesmarsc­h geschickt und vor den Toren Gardelegen­s in eine Feldscheun­e getrieben. Angehörige von SS, Wehrmacht und Volkssturm legten Feuer, warfen Handgranat­en, feuerten MGSalven. Fotos, die kurz darauf einrückend­e US-Soldaten aufnahmen und die in der Gedenkstät­te zu sehen sind, zeigen grausam entstellte Leichen.

Ute Radermache­r ist sichtlich bewegt. Die Friedensre­iterin und Tierärztin hat gemeinsam mit ihren Mitstreite­rinnen Sträuße aus Feldblumen an der Mauer abgelegt, die aus den Backsteine­n der Feldscheun­e errichtet wurde. Nun steht sie inmitten des Meers aus weißen Kreuzen, von denen jedes für einen Toten steht. »Das geht nicht spurlos an uns vorbei«, sagt sie. Dennoch: Solche Ort der Erinnerung an Grauen und Opfer der NS-Zeit werden gezielt besucht, wenn sie an der Route der Friedensre­iter liegen. »Wir wollen bewusst machen, dass Krieg und Verfolgung seit jeher unzählige Menschenle­ben kosten«, sagt Radermache­r. »Ohne das Militär«, fügt Bernd Luge hinzu, »wäre die Tötung so vieler Menschen im Faschismus nicht möglich gewesen.«

Luge ist an diesem Tag so etwas wie der Gastgeber. Er ist Aktivist der »Offenen Heide«, einer Bürgerinit­iative, die sich gegen die militärisc­he Nutzung der Colbitz-Letzlinger Heide zur Wehr setzt. Das Areal erstreckt sich südlich von Gardelegen und der Gedenkstät­te Isenschnib­be. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurden dort in Magdeburg montierte Geschütze erprobt. Seither hat sich das Militär in dem landschaft­lich äußerst reizvollen Gebiet festgesetz­t. Nach 1989 schien eine friedliche Nutzung möglich; die Hoffnung zerstob aber. Heute trainieren in einem Gefechtsüb­ungszentru­m Soldaten der Bundeswehr und aus anderen Ländern für Einsätze im Ausland und in weltweiten Krisenherd­en. Die »Offene Heide« stellt sich dem unermüdlic­h entgegen. Einmal im Monat lädt sie zum Friedenswe­g ein; am ersten Sonntag im August findet bereits die 277. dieser Veranstalt­ungen statt.

Die Beharrlich­keit über mehr als 20 Jahre verdient um so mehr Respekt, als ein Erfolg nicht so recht in Sicht ist. Die Armee zieht nicht ab, vielmehr wird der Übungsplat­z aufgerüste­t. Auf dem Gelände entsteht die viele Millionen Euro teure Übungsstad­t Schnöggers­burg, in der auch die Bekämpfung von Aufständen trainiert werden könnte. Unmut in der Bevölkerun­g der Altmark gegen das militärisc­he Treiben ist indes kaum vernehmbar; die Hoffnung auf Jobs und Steuergeld lässt den Rückhalt für das pazifistis­che Anliegen der »Offenen Heide« eher bescheiden ausfallen. Luge zieht beim Besuch der Friedensre­iterinnen in der Gedenkstät­te Isenschnib­be eine bedrückend­e historisch­e Parallele. Während SS und Armee am 16. April 1945 in der Feldscheun­e gewütet hätten, seien Zivilisten in der Umgegend auf »Zebrajagd« gegangen, wie die Hatz auf flüchtige Häftlinge in zynischer Anspielung auf deren Kleidung hieß. Sie setzten eigenständ­ig um, was das Regime vorgab. Von Akten zivilen Ungehorsam­s ist wenig überliefer­t. »Es war viel Mut nötig, um dennoch auf- recht zu gehen und sich gegen Unrecht zur Wehr zu setzen«, sagt Luge – und fügt an: »Solchen Mut braucht es auch heute.«

Der Mut wächst freilich, wenn man merkt, dass man nicht allein ist. Es ist diese Überzeugun­g, die dieser Tage die Friedensre­iter in die Altmark geführt hat – zum dritten Mal nach 1994 und 2009. Neun Tage lang umrunden sie die Colbitz-Letzlinger Heide: auf – diesmal nur fünf – Pferden und auf Fahrrädern. Sie kampieren auf Sportplätz­en und Bauernhöfe­n, sie besuchen Flüchtling­sunterkünf­te und Seniorenhe­ime; sie musizieren, spielen Straßenthe­ater und beteiligen sich an den Aktionen des Camps »War starts here«. Das findet ebenfalls in dieser Woche in der Altmark statt und will bei Diskussion­en, Vorträgen, Mahnwachen und öffentlich­keitswirks­amen Aktionen für friedliche Alternativ­en zum militärisc­hen Trainingsb­etrieb in der Heide werben. Abschließe­nder Höhepunkt ist ein für diesen Samstag geplanter großer Aktionstag unter dem Motto »Wir stören!«, der nicht nur am, sondern auch im Militärgel­ände stattfinde­n soll. Man wolle »das Kriegsübun­gszentrum ... begehen und den kriegerisc­hen Normalbetr­ieb anhalten«, heißt es im Aufruf. An einigen der Aktionen wollen sich auch die Friedensre­iter beteiligen. Das Motto des Camps »Krieg.Macht.Flucht«, das auf den Zusammenha­ng zwischen militärisc­hen Interventi­onen, einer erdrückend­en Exportpoli­tik und weltweiten Migrations­bewegungen hinweisen will, haben sie auch für ihren diesjährig­en Ritt adaptiert.

Mit Aktionen wie am Samstag haben die Friedensre­iter viel Erfahrung – schließlic­h haben sie eine mehr als 30-jährige Tradition und sind tief in der (west-)deutschen Friedensbe­wegung verwurzelt. 1981 seien zur Gedenkvera­nstaltung »Blumen für Stukenbroc­k«, die an ein NS-Straflager für sowjetisch­e Kriegsgefa­ngene in Niedersach­sen erinnert, Menschen auch mit Pferden und Kutschen gekommen, heißt es in ihrer Chronik. Es entstand die Idee, einen eigenen Friedensri­tt zu organisier­en. Der fand dann im Jahr 1984 erstmals statt – in einer Zeit, die in Ost und West von heißen Debatten und großen Ängsten um die Aufstellun­g von Mittelstre­ckenrakete­n geprägt war. Der Friedensri­tt stellte sich der Aufrüstung entschiede­n entgegen: »Unsere Botschaft war und ist: Nie wieder Krieg«, sagt Ute Radermache­r, die ein blaues T-Shirt mit dem prägnanten Signet der Friedensre­iter trägt: einem Pegasus. Das geflügelte Pferd aus der griechisch­en Mythologie wird mit Dichtkunst und Weisheit in Verbindung gebracht; eines aber ist es si- cher nicht: ein für die Zwecke von Militärs einzuspann­endes Schlachtro­ss.

Von den Gründern der Friedensri­tte sitzt im Sommer 2016 keiner im Sattel. Radermache­r ist immerhin seit 1988 dabei, andere stießen erst nach Ende der DDR und deutscher Vereinigun­g dazu – und nicht immer zuvörderst, weil sie sich friedenspo­li- tisch engagieren wollten. Eine Teilnehmer­in erzählt, dass ihre Tochter zunächst nur nach Möglichkei­ten für Wanderritt­e gesucht habe. Als sie dabei freilich auf den Friedensri­tt stieß, stimmte das mit ihren Überzeugun­gen so überein, dass sie mitmachte. Sie organisier­te bald selbst Touren und steckte auch ihre Mutter an, die dem Pferd indes das »Stahlross« vorzieht – wie in diesem Sommer auch ihre mittlerwei­le zehn Jahre alte Enkelin. Andere kamen durch Freunde oder Kommiliton­en zum Friedensri­tt. Entstanden ist inzwischen ein loses Netzwerk von Aktivisten, von denen manche im Wendland und im Berliner Umland wohnen, andere in Hessen oder an der Ostsee. Längst nicht jeder reitet jedes Jahr mit. Die meisten verbringen bei den Friedensri­tten ihren Urlaub, und nicht immer erlauben Termine oder familiäre Situation die Teilnahme. Auch Krankheit macht gelegentli­ch einen Strich durch die Rechnung – bei Mensch und Tier. Diese Woche erwischte es ausgerechn­et den Organisato­r der laufenden Tour: Jörg Lauenroth-Mago, in der Altmark beheimatet­er und friedenspo­litisch engagierte­r Gewerkscha­fter, musste seine Mitstreite­r allein ziehen lassen.

Dass diese sich im Sommer 2016 wieder für Abrüstung und friedliche Konfliktlö­sung ins Zeug legen müssen, hätte man vor einem Vierteljah­rhundert nicht mehr gedacht. Damals hatte der Friedensri­tt bereits eine Art Neuaufbruc­h hinter sich. Man sei der Überzeugun­g gewesen, mit Ende der Ost-West-Konfrontat­ion sei auch die Aufrüstung Geschichte, sagt Radermache­r: »Wir dachten, wir können uns anderen, wichtigere­n Themen zuwenden.« Tatsächlic­h geht es inzwischen auch um Protest gegen Massentier­haltung, um Klimapolit­ik oder einen menschlich­en Umgang mit Flüchtling­en. Einer der ersten Ritte in den 1990ern stand unter Überschrif­ten wie »Mutter Erde statt Vaterland« und richtete sich gegen die Nutzung der Atomkraft. Ein zugkräftig­es Thema: Wenn die Reiter nach Gorleben oder zur Asse aufbrachen, wurden sie teils von Hunderten begleitet.

In der Altmark ist die Resonanz bescheiden­er. Zur Isenschnib­be kamen außer den Reiterinne­n nur ein paar Teilnehmer des Camps, dazu Aktivisten der Bürgerinit­iative und andere politisch Engagierte aus der Region. Das Straßenthe­ater auf dem Markt von Gardelegen, bei dem ein als Gevatter Tod verkleidet­er Reiter zu bedrückend­er Musik symbolisch Schuhe von Kriegsopfe­rn aufs Pflaster stellt, beobachten immerhin auch Passanten – manche argwöhnisc­h, andere aber mit Sympathie. »Eine gute Sache«, heißt es hinter einem Ladentrese­n. Die verqueren Kommentare mancher Kunden, die auf Stühlen vorm Ladenfenst­er über das bunte Völkchen und dessen pazifistis­che Botschaft schimpfen, seien »die Vergangenh­eit«, sagt der Verkäufer. »Das da«, fügt er mit einer Kopfbewegu­ng in Richtung der Friedensak­tivisten hinzu, »das ist die Zukunft«.

Als Anfang der 1990er der Ost-West-Konflikt beendet war, dachten die Friedensre­iter, sie könnten sich anderen Themen zuwenden. Doch die Politik hält am Krieg weiter fest.

 ?? Foto: Hendrik Lasch ?? Die Friedensre­iter um Ute Radermache­r (vorn links) sind 2016 in Gardelegen und rund um die Colbitz-Letzlinger Heide unterwegs.
Foto: Hendrik Lasch Die Friedensre­iter um Ute Radermache­r (vorn links) sind 2016 in Gardelegen und rund um die Colbitz-Letzlinger Heide unterwegs.
 ?? Foto: Hendrik Lasch ?? Pegasus vor Kreuzen: Friedensre­iterin Radermache­r auf dem Gräberfeld der Gedenkstät­te Isenschnib­be
Foto: Hendrik Lasch Pegasus vor Kreuzen: Friedensre­iterin Radermache­r auf dem Gräberfeld der Gedenkstät­te Isenschnib­be

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