»Protest muss auf allen Ebenen passieren«
Der Linksradikale Patrick Binkofski rechtfertigt Sachbeschädigungen im Rahmen der Proteste für die »Rigaer 94«
Patrick Binkofski dreht sich zunächst auf dem Balkon eine Zigarette, er sei ein bisschen nervös, nicht wegen des Interviews, er habe gerade Stress und sei müde. Als Aktivist schlafe er wenig. Er ist klein und schmal, die Haare kurzgeschoren. Trotzdem stellt er sich vor den Spiegel und streicht sich über die Schläfen, bevor er sich vor die Kamera setzt. Erst auf den zweiten Blick fallen seine muskulösen Oberarme auf – er hält sich fit für die Straße. »Natürlich kann geschossen werden«, steht auf seinem Trägerhemd, ein Zitat von RAF-Mitglied Ulrike Meinhof.
Binkofski ist Anarchist und Linksradikaler, so bezeichnet er sich selbst. Er kommt aus einem westdeutschen SPD-Grünen-Haushalt, versuchte sich erst bei den Grünen, dann bei der Linkspartei. Er lernte boxen und legte sich mit Nazis an. Dann fokussierte er sich auf Veganismus und Tierrechte, machte sein Fachabitur, studierte in Kassel drei Semester Soziologie und Politikwissenschaft, dann Online-Journalismus in Köln, brach beides ab. »Ich konnte es moralisch nicht mit mir vereinbaren, mich den ganzen Tag mit einer sinnlosen Theorie auseinanderzusetzen und Teil des Systems zu werden.« Stattdessen ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Wohnheim für Behinderte. »Meine bis dato schönste Erfahrung.« Im Mai 2015 ging er wieder nach Berlin und engagierte sich in der Flüchtlingsarbeit. »Wenn man wie ich sein Gästezimmer für eine Nacht einer syrischen Familie anbietet, die dann die Möglichkeit hat, in Ruhe zu waschen und zu kochen, was sie in der Unterkunft nicht können, dann hat man ohne viel Aufwand mehr Positives bewirkt, als in seinem ganzen Leben wahrscheinlich zuvor.«
Als das Hausprojekt in der Rigaer Straße 94 teilgeräumt wird, fährt er aus Solidarität nach Friedrichshain. Jeden Tag verbringt er dort mehrere Stunden: organisiert Unterstützer, Bands, Verpflegung. Wie sind Sie von der Flüchtlingshilfe zur Rigaer Straße gekommen? Die linke Szene um die Rigaer 94 kämpft genau dafür, wofür ich auch kämpfe: dass es den schwächsten Menschen der Gesellschaft besser geht. Viele Linksautonome machen ehrenamtlich und sozial tausendmal mehr als jeder Polizist, jeder Politiker und auch Angela Merkel es in seinem oder ihrem ganzen Leben tun wird. Obwohl es für die ziemlich einfach wäre zu sagen, wir führen eine Millionärssteuer ein, um die Schwächsten zu unterstützen.
Weil sie sich sozial engagieren unterstützen Sie die Bewohner der Rigaer Straße 94?
Seit Jahren wird in Berlin den weniger zahlungskräftigen Menschen der Wohnraum genommen. Er wird saniert und zu unverhältnismäßig hohen Preisen an irgendwelche reichen Zugezogenen vermietet oder verkauft, die es cool finden, sagen zu können: Ich bin Berliner, ich bin cool, weil ich in Neukölln lebe. Neukölln war noch vor einigen Jahren dafür bekannt, dass dort die sozial Schwächsten leben. Jetzt verdrängen wir reichen deutschen Arschlöcher sie aus diesen Gegenden. Wir verdrängen Obdachlose oder Menschen aus besetzten Häusern, um uns ein tolles Luxusleben zu machen. Das darf nicht sein. Und es darf auch nicht sein, dass ein Hausprojekt wie die Rigaer Straße, das sich sozial engagiert für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, auch für Flüchtlinge, seine Nutzungsräume rechtswidrig abgenommen bekommt.
Die haben sie ja jetzt zurück bekommen.
Ja, aber leider mussten dafür mehrere Millionen Euro Sachschaden entstehen, und leider musste dafür vor Gericht geklagt werden.
Jetzt gibt es aber immer noch fast jede Nacht Sachbeschädigungen.
In den nächsten Wochen stehen ja weitere Räumungen an, zum Beispiel vom Laden M99 in Kreuzberg. Auch gegen Räumungen von Hartz-IVEmpfängern aus ihren Wohnungen muss protestiert werden. Wir müssen uns mehr solidarisieren, nicht nur für die Rigaer 94, sondern auch für schwächere Glieder der Gesellschaft. Und ich hoffe, dass die Proteste ein erster Schritt in Richtung einer protestreicheren, solidarischeren, gerechteren Gesellschaft sein wird.
Für die gemäßigte Linke schadet Gewalt den Zielen allerdings mehr, als dass sie ihnen nützt.
Die linke Szene in Berlin blüht gerade so auf, wie sie es seit Jahren nicht mehr gemacht hat. Sonst hätte es am 9. Juli nicht die größte Demo seit Jahren hier gegeben. Aber natürlich sind diese Argumente von gemäßigteren Linken gerechtfertigt. Ich finde, Protest muss auf allen Ebenen passieren. Politisch, indem man die Partei unterstützt, die am wenigsten scheiße ist. Es muss eine gewerkschaftliche Szene geben, die die Arbeiter, die Tag und Nacht ausgebeutet werden, unterstützt. Und es muss eine pazifistische Ebene geben. Man kann gegen die Räumung der Rigaer 94 auch friedlich demonstrieren, eine rauchen oder was essen und einfach nur da sein und Musik machen. Dort haben sich täglich unzählige Bürger versammelt, um auf friedliche Weise zu protestieren. Aber es muss eben auch eine linksautonome Szene geben.
Ich finde es gerechtfertigt, wenn Luxusbauten und Luxuskarossen zerstört werden. Um darauf aufmerksam zu machen: Junge, statt deinem 200 000 Euro teuren Porsche hättest du dir vielleicht auch für 3000 Euro ein einfaches Auto kaufen können, was dich von A nach B bringt. Und du hättest mit dem Rest des Geldes hungernden Kindern oder Bürgerkriegsflüchtlingen helfen können. Meinen Sie, eine solche Botschaft kommt bei dem Porschefahrer an? Ich finde es deswegen immer wichtig, auch eine politische Botschaft zu hinterlassen, wenn Leute etwas zerstören. Jeder Mensch musste sich in den vergangenen Wochen zur Rigaer äußern, unter anderem der Verfassungsschutzpräsident von Berlin. Der meinte, es sei ein Wunder, dass noch keine Menschen zu Tode gekommen sind. Das einzige Wunder ist, dass noch keine Menschen auf Demonstrationen zu Tode gekommen sind, wo Polizisten auf friedliche Demonstranten einschlagen. Vor der Rigaer 94 wurde ein Familienvater von mehreren hoch gesicherten riesigen Bullen krankenhausreif geschlagen. Kein Linksautonomer, den ich kenne, würde jemals irgendwen grundlos zusammenschlagen oder gar umbringen.
Die eigentliche Gewalt geht nicht von Linksautonomen aus. Die eigentliche Gewalt geht von dem System aus, das Grenzen bildet, Ländergrenzen, damit fängt es ja schon an, um andere Nationalitäten auszugrenzen, um ihnen die Teilnahme an unserem Luxus zu verweigern. Ich bin froh, dass Deutschland, verglichen mit anderen Ländern, ein relativ demokratisches Land ist, in dem man frei leben und demonstrieren kann. Aber ich schäme mich dafür, Teil einer egoistischen, widerlichen Wohlstandsgesellschaft zu sein, die sich vor allem damit beschäftigt, ein noch tolleres Leben, noch tollere Wohnungen, ein noch tolleres Auto und eine noch tollere Zukunft zu haben, während gleichzeitig außerhalb unserer Landesgrenzen Menschen verrecken.