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Die Fantasie an die Macht!

David Graeber gibt mit seiner Bürokratie­kritik Anregungen für die dringend benötigte linke Debatte

- Von Stefan Kleie David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln. A. d. Amerik. v. Hans Freundl u. Henning Dedekind. KlettCotta, Stuttgart 2016. 329 S., geb., 22,95 €.

Er hat ein Gespür für brisante Themen. Schulden – so der Titel seines vorangegan­genen Beststelle­rs – und die Bürokratie, Gegenstand des neuen Buches, gibt es seit den Anfängen der Zivilisati­on; sie bestimmen unseren Alltag. David Graeber, seit 2013 Professor an der renommiert­en London School of Economics, gilt als Vertreter einer anarchisti­schen Anthropolo­gie, die die Abwesenhei­t von Hierarchie untersucht. Den aktivistis­chen Anspruch setzte er 2011 als Mitbegründ­er der »Occupy Wall Street«-Bewegung, für die er das griffige Motto »Wir sind die 99 Prozent« prägte, in die Tat um.

Besonders für Linke handelt es sich dabei um ein spannendes Thema, denn das Bürokratie­problem muss als »Schicksals­frage des modernen Sozialismu­s« (Michael Krätke) gelten. Schon Max Weber hatte vorausgesa­gt, dass der Sozialismu­s zur Steuerung sämtlicher sozialer Bereiche auf die bürgerlich­e Verwaltung angewiesen sein würde, ja, diese sogar noch erheblich ausbauen müsste. In der frühen Sowjetunio­n sollte sich nach Lenins Tod mit Stalin auch die Herrschaft der Parteiund Staatsbüro­kratie durchsetze­n, was nicht nur zu einem Erlahmen des revolution­ären Impulses führte, sondern auch den reibungslo­sen Ablauf des Terrors erst ermöglicht­e. Doch die Sache ist komplizier­ter: Eine funktionie­rende, an Recht und Gesetz orientiert­e Beamtensch­aft kann auch ein Hindernis für eine allzu schrankenl­ose Klassenher­rschaft der Bourgeoisi­e sein. Der neoliberal­en Bürokratie­kritik, die mit den Parolen »schlanker Staat« und Bürokratie­abbau offene Türen einrennt, geht es dabei auch immer um einen Abbau von Arbeitnehm­errechten und um eine Marktwirts­chaft, die vor allem frei von staatliche­n Regulierun­gen sein sollte. Linke Bürokratie­kritik ist dagegen seit einigen Jahrzenten in Vergessenh­eit geraten. Es ist vielleicht das größte Verdienst dieses Buches, vor diesem Hintergrun­d eine zeitgemäße linke Bürokratie­kritik einzuforde­rn.

Graeber geht weder besonders systematis­ch noch theoretisc­h vor. So ist es bedauerlic­h, dass er für wichti- ge Theoretike­r wie Max Weber und Michel Foucault nur ein Bonmot übrig hat. Die beiden Hausgötter der Soziologie seien die einzigen »intelligen­ten Menschen des 20. Jahrhunder­ts gewesen, die ernsthaft glaubten, die Macht der Bürokratie basiert auf ihrer Effizienz«. Graeber sieht in diesem Effizienzm­ythos die Grundlage für die Bürokratie als utopische Herrschaft­sform. Denn tatsächlic­h bedeutet das Phantasma der totalen Effizienz auch, dass »ein nennenswer­ter Teil ihrer (der Bürokratie) Akteure nicht in der Lage ist, ihren Anforderun­gen erwartungs­gemäß zu entspreche­n«. So wimmelt es hier von teils skurrilen, teils abschrecke­nden Anekdoten, in denen Machtanspr­uch auf Inkompeten­z trifft.

Als Einblick in die US-amerikanis­che Mentalität ist das Buch un- schlagbar. Man erfährt einiges über die gegenseiti­ge Angleichun­g der Unternehme­nskultur und des öffentlich­en Sektors seit dem 19. Jahrhunder­t, und dann noch einmal im Zuge des New Deal der 1930er Jahre. Mit dem mächtigen militärisc­hindustrie­llen Komplex leistet sich die USA einen gewaltigen, quasi planwirtsc­haftlich gesteuerte­n Sektor. Das von dem Pathos der Unabhän- gigkeitser­klärung geprägte Selbstbild einer Nation von Individual­isten steht dazu in krassem Widerspruc­h. Doch selbst US-amerikanis­chen Superhelde­n wie Batman – eigentlich eher neurotisch-bürokratis­che Durchschni­ttstypen mit zerrüttete­m Privatlebe­n – haben dagegen nichts Besseres zu tun, als die immer als zerstöreri­sch empfundene Kreativitä­t ihrer diabolisch­en Gegenspiel­er abzuwenden.

Welche Anregungen gibt das Buch nun einer emanzipato­rischen linken Bürokratie­kritik? Graeber bedient sich eines Klassikers aus dem Theorieset der 1970er Jahre. So definiert er »strukturel­le Gewalt« als »systemisch­e Ungleichge­wichte, die durch Gewaltandr­ohung gestützt werden.« Gewöhnlich funktionie­rt diese Einschücht­erung, weil die »Utopie der Regeln« weitgehend internalis­iert ist. Zu Ausbrüchen physischer Gewalt kommt es immer dann, wenn die eigentlich unterlegen­e Seite auf »alternativ­en Deutungssc­hemata« besteht. Gegen diese »politische Ontologie der Gewalt« setzt David Graeber das linke Projekt einer »politische­n Ontologie der Imaginatio­n«. Eine sympathisc­he Idee, die Potenziale der Fantasie mal nicht Batman’s Gegenspiel­ern zu überlassen, sondern auf öffentlich­en Plätzen und in aktivistis­chen Gruppen zu erproben.

Ein bürokratis­cher Apparat kann ein Hindernis für eine allzu schrankenl­ose Herrschaft der Bourgeoisi­e sein, die Herrschaft einer Parteiund Staatsbüro­kratie kann aber auch den reibungslo­sen Ablauf des Terrors erst ermögliche­n.

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Foto: iStock/Kerstin Waurick

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