Architektonisch weit vorn, politisch weit rechts
Mit der Würdigung der Architektur von Le Corbusier als Weltkulturerbe zeichnete die UNESCO auch eine Idee des sozialen Wohnungsbaus des 20. Jahrhunderts aus.
Le Corbusier gilt als Mitbegründer der modernen Architektur. 17 seiner Werke wurden zum Welterbe erklärt.
Nach Ablehnungen 2009 und 2011 brachte der dritte Versuch endlich den Durchbruch: Auf seiner Tagung Mitte Juli in Istanbul hat das UNESCO-Welterbekomitee eine Serie von 17 Bauten und Ensembles des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier in die Welterbeliste aufgenommen. Von diesen Bauten, die für sein Werk besonders charakteristisch sind, befinden sich allein zehn in Frankreich. Die anderen verteilen sich auf Argentinien, Belgien, Deutschland, Indien, Japan und die Schweiz. Le Corbusier habe eine »herausragende Rolle für die Architektur des 20. Jahrhunderts« gespielt und seine Bauwerke seien »Zeugnisse der Globalisierung der Moderne«, befand das Welterbekomitee. Mit diesen 17 Bauten Le Corbusiers, von denen der erste 1923 und der letzte 1965 entstand, wird ein Bogen geschlagen über sein Schaffen und wird sein Entwicklungsweg deutlich.
Le Corbusier wurde als CharlesEdouard Jeanneret-Gris am 6. Oktober 1887 in La Chaux-de-Fonds, dem Zentrum der Schweizer Uhrenindustrie, geboren. Er lernte Gravierer und Ziselierer, besuchte eine örtliche Kunstgewerbeschule und lernte zu malen und Möbel zu entwerfen. Architekt und Urbanist wurde er dagegen aus innerem Antrieb und als Autodidakt. Seine ersten Villen schuf er 1923 in Paris. Zu seinen frühen Arbeiten gehörten 1927 die zwei Häuser für die Stuttgarter WeissenhoffSiedlung, die jetzt mit in die UNESCOListe aufgenommen wurden.
Hier, wie auch bei den zur selben Zeit entstandenen und jetzt mit ausgezeichneten Häusern der Cité Frugès in Pessac (Frankreich), dem Haus Guiette in Antwerpen (Belgien), der Villa Savoye in Poissy (Frankreich) oder dem Haus Clarté in Genf (Schweiz) setzte Le Corbusier schon konsequent die von ihm ausgearbeiteten »Fünf Punkte einer Neuen Architektur« um. Dazu gehören ein flaches Dach mit Dachgarten, lange Schiebefensterzeilen, eine freie Gestaltung des Grundrisses mit Stützen statt massiver Mauern als tragende Konstruktion und auch eine freie Gestaltung der Fassaden. Flexibilität in der Innenarchitektur soll »funktionelles Wohnen« ermöglichen. In einem nach diesen Prinzipien 1931 erbauten und jetzt auf die UNESCO-Liste gesetzten achtstöckigen Miethaus an der Porte Molitor in Paris, wo er sich die obersten zwei Etagen als Wohnung und Atelier reserviert hatte, lebte Le Corbusier bis zu seinem Tod 1965.
In den 1920er und 30er Jahren entwickelte er aus seinen Ideen für zeitgemäße Architektur eine umfassende Theorie. Als Tribüne hatte er schon 1920 die Zeitschrift »L’Esprit nouveau« (Der neue Geist) gegründet, wo er Artikel erstmals mit seinem Pseudonym zeichnete. Das hatte er aus dem Namen seiner Urgroßmutter Lecorbésier und dem Wort »corbeau« (Rabe) gebildet. Er wurde bekannt und zu Kongressen und Vorträgen in ganz Europa, aber auch nach Amerika und Asien eingeladen. Auf einem internationalen Architektenkongress 1933 in Griechenland wurden die von ihm ausgearbeiteten Prinzipien als »Charta von Athen« verabschiedet, die später zu einer Art Bibel für Architekten in aller Welt werden sollte.
Doch die Chance, seine Vorstellungen von einer neuen Art des Wohnens in großem Maßstab zu verwirklichen, bekam Le Corbusier erst nach Kriegsende, als es in Frankreich galt, das Land wiederaufzubauen. Entscheidend war 1946 die Begegnung mit Eugène Claudius-Petit, Bürgermeister von Firminy und Minister für Wiederaufbau und Urbanismus. Das große Wohnhaus, das die Stadt Marseille 1946 bei Le Corbusier in Auftrag gab, sollte zu einem Höhepunkt seines Schaffens werden. Heute zählt es weltweit zu den wichtigsten Bauten des 20. Jahrhunderts. Diese 137 Meter lange, 24 Meter breite und 56 Meter hohe »Unité d’habitation« (Wohneinheit) war von Le Le Corbusier Corbusier wegen der Wohnungsknappheit und dem daraus erwachsenen Zwang zu einem verdichteten Städtebau konzipiert wie eine in die Höhe gestellte Kleinstadt.
Die längs durch das ganze Haus verlaufenden Korridore mit den rechts und links abgehenden Wohnungen entsprachen den Straßen. Entsprechend lagen an ihnen auf zwei der insgesamt 18 Etagen Cafés, Bäcker, Fleischer, Lebensmittelgeschäfte, andere Läden und eine Schnellreinigung. Die Bewohner sollten alles fürs tägliche Leben unter einem Dach vorfinden. Zu den Einrichtungen für alle gehörten ein Kino, eine Bibliothek und ein Kindergarten mit Spielplatz und Planschbecken auf der Dachterrasse. Die über zwei Etagen und damit über den Längskorridor hinweg verlaufenden Wohnungen gehen quer durchs Haus von der Süd- bis zur Nordseite, mit – wegen der Sonne tief zurückgezogenen – Balkon-Loggias auf beiden Seiten. So hat man einen freien Blick sowohl aufs Meer als auch auf die Berge und kann außer- dem den kühlenden Wind durch die Wohnung ziehen lassen.
Doch während das 1952 fertiggestellte Haus, »Cité radieuse« (Strahlende Stadt) getauft, in der Fachpresse bewundert und zum Anziehungspunkt für Architekten aus aller Welt wurde, haben es die wohnungsuchenden Marseiller, für die es bestimmt war, nicht angenommen. Es stand lange halb leer und schließlich entschied die Stadt, es wohnungsweise zu verkaufen. Heute leben hier fast ausschließlich Intellektuelle, die schon vor vielen Jahren zu würdigen wussten, in einem architekturhistorischen Bau zu leben. Allerdings haben die Läden, mit Ausnahme eines Cafés, alle pleite gemacht. Sie hielten der Konkurrenz der in der Umgebung entstandenen Supermärkte nicht stand und statt ihrer findet man heute hier reihenweise Büros von Architekten, Designern oder Immobilienmaklern.
Nach dem Muster der Wohneinheit von Marseille schuf Le Corbusier noch vier weitere, darunter eine 1958 in Berlin. Eine andere entstand in der Arbeiterstadt Firminy bei Saint-Etienne, wo Bürgermeister Eugène Claudius-Petit darüber hinaus bei Le Corbusier eine Kirche, ein Stadion, eine Schwimmhalle und ein Kulturhaus in Auftrag gab. Letzteres kam jetzt mit auf die UNESCO-Liste. Dort finden sich nun auch das Museum der Westlichen Kunst in Tokio und die Villa des Doktor Curutchet in Buenos Aires ebenso wie die in Frankreich vom Atheisten Le Corbusier atemberaubend schön gebaute Pilgerkirche von Ronchamp mit ihrem geschwungenen Dach und das minimalistisch gestaltete Dominikanerkloster La Tourette in Eveux bei Lyon. In der indischen Provinzhauptstadt Chandigarh bekam Le Corbusier 1955 den Auftrag für einen Komplex öffentlicher Bauten, von denen jetzt des Kapitol, der Sitz des Provinzparlaments, mit dem UNESCO-Titel »geadelt« wurde. Der kleinste seiner Bauten auf der Liste ist eine spartanisch, aber durchdacht entworfene und eingerichtete Holzhütte in Roquebrune-Cap-Martin, die Le Corbusier 1951 für sich baute, wo er die Sommerferien verbrachte und vor der er am 27. August 1965 beim Schwimmen im Meer ertrunken ist.
In der Architektur und im Städtebau war Le Corbusier ein Visionär und ein Erneuerer, doch es gibt auch Projekte, bei denen man glücklich sein muss, dass sie nie verwirklicht wurden. So schlug er 1925 im »Plan Voisin« – benannt nach seinem seinerzeitigen Sponsor, einem Autound Flugzeugindustriellen – vor, ein heruntergekommenes Viertel von Paris, zwischen Louvre und Ostbahnhof gelegen, komplett einzuebnen und dort 18 Hochhäuser mit 60 Stockwerken für insgesamt 700 000 Bewohner zu errichten. Dadurch hätte Paris beispielsweise das historische Marais-Viertel verloren, das heute – sachkundig restauriert – eine Attraktion für Einwohner und Touristen ist.
Als Mensch war Le Corbusier komplex und widersprüchlich. So bekundete er Interesse, ja Bewunderung für Mussolini und Stalin, wohl weil er sich von autoritären Auftraggebern größere Chancen für seine gigantischen Städtebauprojekte erhoffte. Er setzte auf Planwirtschaft, war empfänglich für die Theorien einer sozialen »Rassenhygiene« und eines mit harter Hand zu formenden »neuen Menschen«. In Briefen äußerte er sich grob antisemitisch, geistig stand er der extremen Rechten in Frankreich nahe, und während des Krieges biederte er sich beim Vichy-Regime an, was sich allerdings nicht in Form von Aufträgen auszahlte. Auf diese Schattenseiten von Le Corbusier haben drei Bücher französischer Historiker aufmerksam gemacht, die 2015 zu seinem 50. Todestag erschienen sind. So kann man heute Leben und Werk von Le Corbusier differenzierter als früher einschätzen. Seine Rolle als Erneuerer der Architektur und Wegbereiter für humaneres Wohnen schmälert das nicht.