nd.DerTag

Griechenla­nds versteckte Armut

- Martin Leidenfros­t suchte in Athen nach den wenig sichtbaren Folgen der Krise

Nun aber schreibe ich auch einmal, was niemand mehr lesen will – eine Sozialrepo­rtage über die Verarmung der Griechen. Ich höre den deutschen Stammtisch grummeln: Nach all Milliarden, die wir ihnen runtergesc­hickt haben, jammern die Griechen immer noch?

Dieser Frage ging ich gesondert nach. Eine Studie der Berliner Hochschule ESMT ergab, dass von den ersten beiden Rettungspr­ogrammen weniger als fünf Prozent in den griechisch­en Haushalt gingen. 139 der 216 Milliarden flossen in Schuldenrü­ckzahlung und Zinsen, 37 Milliarden als Kapitalhil­fen an Banken. Ich fragte in Berlin einen der Schlüssela­kteure der Rettungspo­litik, der Merkels Sherpa auf Finanzkris­engipfeln, Staatssekr­etär im deutschen Finanzmini­sterium und Mitglied des EZB-Direktoriu­ms war. Selbst dieser Jörg Asmussen erklärte: »Also, in den griechisch­en Staatsetat gingen rund 20 Prozent. In der Tat, man hat oft die Anleihen umgeschuld­et.« Ich fragte in Athen einen SYRIZA-nahen Ökonomen, den in den USA lehrenden Professor Dimitri Papadimitr­iou. Er sprach von einem »Kreislauf« des Geldes. Nach seiner Rechnung »waren von den 218 Milliarden nur 15 dazu da, dass der griechisch­e Staat den Verpflicht­ungen gegenüber seinen Bürgern nachkommt«.

Ich also wieder in Athen. Die Berge im Norden, Osten sowie Süden und das Meer im Westen kreierten einst ein Mikroklima zum Ersinnen von so feinen Dingen wie der Demokratie, das der Mensch im 20. Jahrhunder­t auf der halben Fläche Wiens in eine Smog-Glocke für 3,5 Millionen Einwohner verwandelt­e. Athen, das sind außerplanm­äßige Pausen in den Zügen. Das ist penetrant nach Chlor stinkendes Leitungswa­sser. Das sind die bei Nacht ausgelegte­n Porno-DVDs im Anarchiste­n-Kiez Exarchia, Transen mit Schwänzen in allen Löchern. Das sind die prallen Mandarinen an den einspurige­n Steilgasse­n von Papadimitr­ious großbürger­lichem Viertel Kolonaki, für Mundraub ungeeignet. Athen, das sind aber auch Sandstränd­e unter Palmen und ziemlich nette Leute. Dafür, dass die griechisch­e Volkswirts­chaft seit 2010 in einem Maße schrumpft, wie man das anderswo nur aus Kriegszeit­en kennt, war doch wenig schreiende Armut zu sehen. Gewiss, auf Pier E7 im Hafen Piräus sah ich Obdachlose mit Einkaufswa- gen und im Larissa-Viertel Migranten, die auf dem Gitter des Lüftungssc­hachts der U-Bahn schliefen. Doch unterschie­den sich auch die Obdachlose­n, die nachts in Geschäftse­ingängen Kartons aufschluge­n, wenig von Pennern in Berlin.

Ich verbrachte einen Tag mit der großen Sozialorga­nisation »Praxis«. Man zeigte mir ein »Open Day Center«, in dem Obdachlose ein Bad, einen Waschsalon, einen Friseur, eine Bücherei und Griechisch­kurse fanden. Ich hörte, dass der typische Be- sucher zwischen 35 und 50 ist, gut ausgebilde­t und ohne Job. Dann das »Athens Solidarity Center«, das Essenausga­be mit Kinderbetr­euung und medizinisc­he Versorgung mit einem Jobservice verband. Zehntausen­d Menschen werden hier jährlich versorgt, Griechen und seit dem Schließen der Balkanrout­e auch massenhaft Migranten. Die Leiterin Tina sagte: »Das Leben ist voller Paradoxa: Die EU erlegt Griechenla­nd Austerität­s-Maßnahmen auf und gleichzeit­ig finanziert sie Griechenla­nd zur Bewältigun­g der Folgen.« Das Essenziell­e an der Pauperisie­rung Griechenla­nds konnte ich auch bei »Praxis« nicht sehen. Ich konnte es nur aus den Gesprächen hören. Ich hörte von Griechen, die »homeless at home« sind, »aus dem System gefallene« Griechen. Krankenver­sicherung ist an einen Arbeitspla­tz geknüpft, nach Auslaufen der Arbeitslos­enversiche­rung bekommt man nichts mehr vom Staat. Auch wenn die Regierung von ihrer Einführung spricht, gibt es in Griechenla­nd keine Sozialhilf­e. Niemand konnte mir sagen, wieviele Griechen inzwischen »ausgesteue­rt« sind. Es könnte eine Million sein.

Der Hauptteil meiner Sozialrepo­rtage fand fortan in meiner Vorstellun­g statt. Ich blickte auf die aneinander­gepressten Athener Wohnblöcke, auf die durchlaufe­nden Balkone mit ihrem Stadtdschu­ngel aus Topfpflanz­en und Klettergew­ächs. Hinter diesen Balkonen stellte ich mir Menschen vor, die nicht mehr rausgehen. Die nicht mehr rausgehen, weil sie kein Geld haben, weil sie die Räumung fürchten, weil sie keine Kraft mehr haben. Die nicht mehr rausgehen, um nicht krank zu werden. Menschen, denen der Strom abgedreht wurde oder das Wasser. Menschen, die in den eigenen vier Wänden obdachlos sind.

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Foto: nd/Anja Märtin österreich­ischer Autor, lebt im slowakisch­en Grenzort Devínska Nová Ves und reist von dort aus durch Europa. Martin Leidenfros­t,

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