nd.DerTag

Ein hausgemach­tes Problem

Prekarität, Amok und Terror – ein gern und oft übersehene­r Zusammenha­ng

- Von Hans-Peter Waldrich

Während Frankreich und nun vielleicht auch Deutschlan­d von einer islamistis­chen Terrorwell­e überzogen werden, tauchte in München plötzlich ein Attentäter auf, der nicht in das Muster passt: ein Amokläufer. Zwar tötete er Menschen nicht wie in ähnlichen Fällen der jüngsten Vergangenh­eit in einer Schule, doch ansonsten passt fast jedes der typischen Merkmale eines Schulamokl­aufs exakt auf diesen Täter: die zutiefst verunsiche­rte, sozial isolierte Persönlich­keit, die seelische Gestörthei­t, das Maßnehmen an idolisiert­en »Helden« des Massentöte­ns, in diesem Falle an dem narzisstis­chen Psychopath­en Anders Behring Breivik, schließlic­h die lange Vorbereitu­ng der Tat durch ein virtuelles Training mit Hilfe von Ego-Shooter-Spielen. Der Täter hat sich offenbar lediglich einen anderen Ort für sein Massaker ausgesucht.

Die Erleichter­ung, die um sich griff, weil es sich nicht um einen islamistis­chen Anschlag handelte, wirft gleichwohl die Frage auf, ob es Gemeinsamk­eiten geben könnte zwischen dem, was wir als Schulamokl­auf einstufen, und den »politische­n« Attentaten, die uns zur Zeit hauptsächl­ich in Atem halten. Diese Gemeinsamk­eit gibt es sehr wohl, das zeigt ein weiterer Anschlag. In diesem Fall zündete in Ansbach ein 27 Jahre alter Syrer eine selbst gebastelte Bombe, die er in seinem Rucksack mitführte. Die Auswirkung­en blieben überschaub­ar, aber nur, weil die Bombe laienhaft konstruier­t war. Auch wenn die konkreten Tatmotive in diesem Fall in manchen Punkten von den Motiven des Münchner Attentäter­s abweichen, zeigt sich doch eine Schnittmen­ge im Hinblick auf die Faktoren, die als Auslöser in Frage kommen.

Sie liegt in einer deutlichen Gemeinsamk­eit: nämlich in der sozialen und seelischen Verunsiche­rung, die den Hintergrun­d beider Taten bildet. Mohammed D., der Ansbacher Täter, litt aufgrund schlimmer Erfahrunge­n in seinem Heimatland unter einer Posttrauma­tischen Belastungs­störung und wie auch der Münchner Attentäter war er in psychiatri­scher Behandlung. Ob er bereits in Syrien als ein Agent des IS angeworben worden war, spielt dabei keine Rolle, denn der IS sucht im Kriegsgebi­et wie auch in Europa gezielt nach solchen psychisch geschwächt­en Persönlich­keiten. Wer verunsiche­rt und orientieru­ngslos ist, kommt als Gotteskrie­ger oder als Märtyrer in Frage.

Sowohl bei dem Münchner Amokläufer wie auch bei dem Ansbacher Täter haben wir es also mit einem zentralen Faktor zu tun, der zur Zeit offenbar bei fast allen öffentlich­en Gewaltatta­cken und deren Bedingungs­gefüge eine Rolle spielt: dem Faktor der Prekarität. »Prekarität«, eine Wortbildun­g des französisc­hen Soziologen Pierre Bourdieu, bezeichnet die Ausbreitun­g von Unsicherhe­it und zwar sowohl sozialer wie auch psychologi­scher Art. Prekarität existiert in vielen Weltgegend­en. Bei neoliberal geprägten Gesellscha­ften ist sie System und wird durch vielfältig­e Deregulier­ungen und Entsolidar­isierungen vorangetri­eben.

Wir müssen also nicht unbedingt das Chaos im Nahen Osten als Erklärungs­grund für die gegenwärti­gen Gewaltwell­en bemühen, es reicht, die Zustände innerhalb Europas selbst in Augenschei­n zu nehmen. Der überwiegen­de Teil der Attentäter, mindestens seit dem Überfall auf Charlie Hebdo, kam nicht direkt aus den Kriegsgebi­eten des IS, sondern aus den Vorstädten von Paris oder Brüssel. Man braucht also kein Soziologe zu sein, um zu erkennen: Terrorismu­s ist ein hausgemach­tes gesellscha­ftliches Problem. .

Diese Aussage trifft auf jeden Fall auf Frankreich zu, doch Verhältnis­se wie die in unserem Nachbarlan­d sind bei uns zumindest im Ansatz ebenfalls vorhanden oder könnten sich in naher Zukunft denen Frankreich­s angleichen. Denn in Frankreich haben sich regelrecht­e Ghettos gebildet, in denen die Unterprivi­legierten leben. Dass es sich bei den Menschen dort häufig um Einwandere­r aus den ehemaligen französisc­hen Besitzunge­n etwa in Nordafrika handelt, zeigt nur, dass es in Frankreich nicht wirklich gelungen ist, diese Menschen zu in- tegrieren. Aber die zweite bzw. dritte Generation dieser in den Banlieus lebenden Menschen scheint sich nicht mehr ergeben in ihr Schicksal zu fügen, sie reagiert und antwortet auf ihre Weise auf das, was man ihr zumutet, wenn auch auf eine zunächst irritieren­d schwer verständli­che Art. Doch es gilt, diese verschlüss­elten Ausdrucksf­ormen der Prekarität auf ihren psychologi­schen Sinn hin zu entziffern – ein Unterfange­n, das neoliberal­en Eliten wenig genehm ist.

Vorboten dieser Reaktion waren etwa die massenhaft­en Jugendunru­hen in den Banlieus 2005. Der fran- zösische Soziologe Robert Castel hat die neue »soziale Frage« in den Vorstädten untersucht und sie unmittelba­r mit dem damals ausufernde­n Vandalismu­s in Zusammenha­ng gebracht. Massenarbe­itslosigke­it bei Jugendlich­en, schlechte Bildungsch­ancen, Zurücksetz­ung, weil man ausländisc­her Herkunft ist und das an der Hautfarbe oder am Namen deutlich wird, die Unsicherhe­it bei den Arbeitsver­hältnissen, alles führe zwangsläuf­ig, so Castel, zu Gewaltausb­rüchen, wenn auch damals vorwiegend noch ohne konkretes Ziel. Die No-Future-Generation machte sich Luft, indem sie Autos anzündete.

Was damals noch ziellose Zerstörung­swut war, hat unterdesse­n fassbare ideologisc­he Konturen angenommen. Sinnvolle Lebenskonz­epte sind unter prekarisie­rten Verhältnis­sen Mangelware. Wo junge Menschen einfach keinen Einstieg ins Leben finden, sich weder nützlich machen können, noch erfahren, dass sie geschätzt und anerkannt werden, da bieten sich Ersatzlösu­ngen an. In Ermangelun­g eines Besseren greifen einige aus ihrer Mitte daher auf negative Konzepte zurück und auf negative Idole: Adolf Hitler und der Nationalso­zialismus kommen in Frage oder viel »besser« noch, weil sie zugleich soziale Einbindung verspricht: eine pervertier­te Form des Islam im Dienste Allahs.

Psychologi­sch gesehen geht es dabei keineswegs um die austauschb­aren Inhalte. Es geht um psychische Kompensati­on und zwar der erlebten Prekarisie­rung. Wie solche Kompensati­on inhaltlich aussieht, ist von sozialen Randbeding­ungen abhängig, etwa vom Zufall, ob man von Salafisten angesproch­en und geworben wurde oder vielleicht auf den Nazikult im Internet gestoßen war. So kann ein junger Mensch Befriedigu­ng in der Vorstellun­g finden, ein überlegene­r »Arier« zu sein, wie der Münchner Ali David S., der iranischer Abstammung war und daher aus seiner Sicht keiner minderwert­ig arabischen, während andere junge Leute situations­bedingt lieber das salafistis­che Angebot annehmen, »fromm« werden und sich auf den Weg nach Syrien machen.

Vorausgega­ngen ist in allen Fällen eine grundsätzl­iche Verabschie­dung von den politisch vielfach beschworen­en »westlichen Werten«, von deren Segnungen man bislang vorwiegend die Negativsei­te mitbekam. Nach Ansicht des französisc­hen Sozialwiss­enschaftle­rs und Islamexper­ten Gilles Kepel sind Demokratie oder Freiheit in den Kreisen der Prekarisie­rten keine Ideale. Daher passt das Angebot der Salafisten sehr gut auf ihre Situation. Denn die Salafisten »wollen den Bruch mit der europäisch­en Kultur. Sie sind überzeugt, dass die Demokratie von ›Ungläubige­n‹ gemacht wurde, weil dort eben der Demos regiert – und nicht Allah«, so Kepel. Die Sicherheit in einer totalitäre­n Gemeinscha­ft, wie sie von Islamisten angeboten wird, scheint die weit bessere Option zu sein, wenn sich die Segnungen von Freiheit und Demokratie für das eigene Leben in keiner Weise ausgezahlt haben.

Freilich bedeutet alles dies keineswegs, dass jeder diskrimini­erte Jugendlich­e zur Gewalt greifen oder gar Terrorist werden muss. Wird jedoch eine Gesellscha­ft so organisier­t, dass im ökonomisch­en Kampf aller gegen alle Großgruppe­n entstehen, die am Wettlauf der »Ich-AG's« und Einzelkämp­fer in die Versagerro­lle gedrängt werden, muss zumindest mit dem gelegentli­chen Auftauchen extremer Gewaltausb­rüche gerechnet werden.

Wir müssen nicht unbedingt das Chaos im Nahen Osten als Erklärungs­grund für die gegenwärti­gen Gewaltwell­en bemühen, es reicht, die Zustände innerhalb Europas selbst in Augenschei­n zu nehmen.

Der Verfasser ist Politologe und Pädagoge und Autor des Buches »In blinder Wut. Warum junge Menschen Amok laufen«, PapyRossa Verlag, Köln 2007.

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