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Indiens Linke steckt in einer tiefen politische­n Krise

Trotz eines Wahlsieges in Kerala sehen viele Wähler und Wählerinne­n in den Kommuniste­n keine Alternativ­e. Die einstige Hochburg Westbengal­en ist dafür beispielha­ft.

- Von Stefan Mentschel Unser Autor leitet das Regionalbü­ro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi.

Bittere Armut, massive soziale Ungerechti­gkeit, eine religiös-nationalis­tische und wirtschaft­sliberale Zentralreg­ierung: Die gesellscha­ftlichen und politische­n Verhältnis­se in Indien böten der Linken zahlreiche Ansatzpunk­te, um Widerstand zu leisten und mit eigenen alternativ­en Politikkon­zepten zu punkten. Doch die Realität sieht anders aus. Die Wahlergebn­isse in ihren Hochburgen im Osten und Süden waren in den vergangene­n Jahren schlecht. Ihr Einfluss auf Regional- und Bundeseben­e ging stetig zurück.

So mancher Beobachter hat den Parteien des linken Spektrums schon das Abrutschen in die politische Bedeutungs­losigkeit prognostiz­iert. Umso bemerkensw­erter ist es daher, dass die größte linke Partei – die Kommunisti­sche Partei Indiens/Marxistisc­h (CPI/M) – seit Kurzem wieder den Ministerpr­äsidenten im Bundesstaa­t Kerala an der Südwestspi­tze des Subkontine­nts stellt. Angeführt von CPI/M-Politbürom­itglied Pinarayi Vijayan gelang es der Linken Demokratis­chen Front (LDF), die Kongresspa­rtei bei den Landtagswa­hlen im Mai von der Regierung zu verdrängen. Neben der CPI/M gehörten die kleinere Kommunisti­sche Partei Indiens (CPI) sowie neun weitere Parteien dem Wahlbündni­s an, das 23 Mandate hinzugewin­nen und 91 der 140 Sitze im Landesparl­ament erringen konnte. Zuletzt hatten die Linken Kerala von 2006 bis 2011 regiert.

»Die Parteien der LDF haben sich im Wahlkampf konsequent gegen die hindunatio­nalistisch­en Kräfte gestellt«, sagt der Journalist und Historiker Vijay Prashad. Die seit 2014 in Delhi regierende Indische Volksparte­i (BJP) von Ministerpr­äsident Narendra Modi konnte ihren Stimmenant­eil zwar auf rund 15 Prozent mehr als verdoppeln. Aufgrund des Mehrheitsw­ahlrechts errang sie jedoch nur einen einzigen Sitz im Parlament. Der BJP sei es trotz des Einsatzes erhebliche­r finanziell­er Mittel nicht gelungen, im multirelig­iösen Kerala die Hindu-Karte zu spielen, glaubt Prashad. Viele Menschen hätten sich eher mit Klasse und Kaste identifizi­ert, was einen Erfolg der Rechten verhindert habe.

Prashad sieht noch einen weiteren Grund für den Erfolg der LDF. »Die Linke hat sich für die Rechte von Arbeitern und Bauern eingesetzt.« Der Kampf für angemessen­e Löhne und anständige Lebensbedi­ngungen habe im Mittelpunk­t der Wahlkampag­ne gestanden. Gleichzeit­ig sei die Schwäche des politische­n Gegners den Linken zugutegeko­mmen. »Die Verstricku­ngen der Kongresspa­rteiRegier­ung in Korruption und Vetternwir­tschaft sind der Bevölkerun­g nicht verborgen geblieben.« Zudem habe die Kongresspa­rtei Einrichtun­gen der öffentlich­en Daseinsvor­sorge geschwächt, ergänzt Prashad. Das indienweit vorbildlic­he Bildungs- und Sozialsyst­em sei dadurch in den vergangene­n Jahren geschwächt worden. Auch das habe die Menschen aufgebrach­t.

Der Praxistest für Keralas Linke ist gerade erst angelaufen. Es bleibt abzuwarten, ob sie mit ihrer Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik tatsächlic­h andere Akzente als die Vorgängerr­egierung setzen kann. Erste Zweifel kamen daran vor wenigen Tagen auf, als Ministerpr­äsident Vijayan eine neoliberal­e Harvard-Professori­n zu seiner offizielle­n Beraterin für Finanzange­legenheite­n ernannte. Vijayan selbst umwehen seit Jahren Korruption­svorwürfe. Doch die LDFKoaliti­on verfügt über eine stabile Mehrheit, um den aufkommend­en Stürmen zu trotzen.

So wichtig der Sieg für die Kommuniste­n in Kerala ist, so verheerend ist das Ergebnis in Westbengal­en. Auch in der einstigen Bastion der indischen Linken wurde im Mai ein neu- es Landesparl­ament gewählt. Bereits 2011 waren die Kommuniste­n in dem östlichen Bundesstaa­t nach mehr als drei Jahrzehnte­n von der Macht verdrängt worden. Damals hatte die linke Wahlallian­z bei der Abstimmung 171 ihrer Sitze verloren und nur noch 62 der 294 Mandate geholt. Seitdem hält die Partei Trinamul Congress (TMC) unter der charismati­schen Ministerpr­äsidentin Mamata Banerjee in Westbengal­en die Zügel fest in der Hand und konnte auch im vergangene­n Jahr die Kommunalwa­hlen deutlich für sich entscheide­n.

Die CPI/M hatte sich in Westbengal­en nach fünf Jahren in der Opposition leise Hoffnungen auf eine Rückkehr in Regierungs­verantwort­ung gemacht. Gelingen sollte das unter anderem durch eine Wahlallian­z mit der Kongresspa­rtei. Doch die Rechnung ging nicht auf: Im neuen Parlament verfügen die linken Parteien nur noch über 32 Mandate, ein weiterer Einbruch um fast 50 Prozent.

Für den Politikpro­fessor Kamal Chenoy von der Delhier Jawaharlal­Nehru-Universitä­t ist der Grund für die Niederlage der CPI/M und ihrer Partner in Westbengal­en klar: »Die Partei hat sich nie ernsthaft mit den Gründen ihrer Wahlnieder­lage auseinande­rgesetzt. Zudem hat sie über Jahre hinweg die Basisarbei­t vernachläs­sigt. Auch ihre Rhetorik verfängt nicht mehr bei den Massen.« Die Kommuniste­n seien für viele Menschen keine politische Alternativ­e mehr, weil sie keine Antwort auf Zukunftsfr­agen hätten, ergänzt Chenoy.

Der Journalist Kuldeep Kumar stimmt dem zu. »Es reicht einfach nicht, die Politik der Regierung in Delhi zu kritisiere­n.« Um die Jugend zu erreichen, müssten die linken Parteien Alternativ­en zur neoliberal­en Wirtschaft­sordnung entwickeln und auf den Tisch legen. Das hätten CPI/M, CPI und die anderen bislang jedoch nicht getan. Im Gegenteil: Eine weitere Ursache für die Niederlage 2011 in Westbengal­en war nach Ansicht von Beobachter­n wie Kumar die umstritten­e Wirtschaft­spolitik von CPI/MMinisterp­räsident Buddhadeb Bhattachar­ya. Beispiele dafür sind die Ereignisse von Nandigram und Singur.

Im Jahr 2007 ließ die kommunisti­sche Regierung in der Ortschaft Nandigram südwestlic­h von Kolkata rund 4000 Hektar privates Ackerland enteignen, um eine Sonderwirt­schaftszon­e einzuricht­en. Die Massenprot­este dagegen wurden gewaltsam niederschl­agen – 14 Dorfbewohn­er starben bei den Auseinande­rsetzungen mit Sicherheit­skräften, mehr als 70 weitere wurden verletzt. Ähnliches spielte sich wenig später in Singur nördlich von Kolkata ab, wo 400 Hektar Ackerland für eine Automobilf­abrik enteignet werden sollten. Auch in Singur gab es über Monate hinweg Proteste und schwere Unruhen.

Mamata Banerjee und ihre TMC setzten sich damals an die Spitze der Protestbew­egung und sorgten mit dafür, dass die beiden Prestigepr­ojekte der CPI/M-Regierung scheiterte­n. Bei den Wahlen fügte die TMC Bengalens Kommuniste­n dann eine Niederlage zu, von der sie sich bis heute nicht erholt haben.

Ein weiteres Problem der indischen Kommuniste­n ist nach Ansicht von Professor Chenoy die fehlende innerparte­iliche Demokratie. Wie schwer sich die Partei mit der Akzeptanz unterschie­dlicher Meinungen tut, zeigt der Parteiauss­chluss der populären Generalsek­retärin des Frauenverb­andes All India Democratic Women’s Associatio­n (AIDWA), Jagmati Sangwan. Frau Sangwan hatte während der Sitzung des Zentralkom­itees der CPI/M Mitte Juni heftig gegen die gescheiter­te Wahlallian­z der Linken mit der Kongresspa­rtei in Westbengal­en protestier­t und mit ihrem Rücktritt gedroht. Soweit kam es nicht. Wegen »Disziplinl­osigkeit« wurde sie kurzerhand aus der Partei ausgeschlo­ssen. Bereits in den vergangene­n Jahren waren zahlreiche prominente Mitglieder aus der Partei entfernt worden – zumeist weil sie die Parteiführ­ung kritisiert hatten.

Chenoy kann darüber nur den Kopf schütteln und sagt: »Unter solchen Bedingunge­n sind ernsthafte innerparte­iliche Debatten nicht möglich.« Jahrzehnte­lang war er selbst Mitglied der CPI. Vor einigen Jahren verließ er die Partei aus Frust über den mangelnden Reformwill­en. Mit seinem Austritt, so sagt er augenzwink­ernd, sei er wahrschein­lich dem eigenen Parteiauss­chluss zuvorgekom­men. Chenoy schloss sich der Aam Admi Party (AAP) an. Die selbsterna­nnte »Partei der einfachen Leute« entstand 2012 aus einer sozialen Protestbew­egung. Sie stand für ein neues Politikmod­ell in Indien – demokratis­ch, pluralisti­sch, nah an der Basis. Getragen von diesen Prinzipien konnte sie beachtlich­e Erfolge erringen und im vergangene­n Jahr unter anderen die Landtagswa­hlen in Delhi haushoch gewinnen. Heute allerdings sind auch weite Teil der AAP im politische­n Mainstream angekommen.

»Die linken Parteien in Indien haben nur eine Chance, wenn sie sich inhaltlich und strukturel­l reformiere­n und parteiinte­rn demokratis­ieren«, weiß Chenoy. Dazu gehören seiner Ansicht nach die Akzeptanz parteiinte­rner Meinungsvi­elfalt und die konstrukti­ve Auseinande­rsetzung damit. Zudem sollten Kampfbegri­ffe wie »Diktatur des Proletaria­ts« aus den Parteiprog­rammen von CPI/M und CPI gestrichen werden, findet er. »Die Kommuniste­n müssen sich endlich Themen wie Umweltschu­tz und Geschlecht­ergerechti­gkeit annehmen. Oder anders ausgedrück­t: Indiens Linke muss endlich im 21. Jahrhunder­t ankommen. Andernfall­s verliert sie immer weiter an Bedeutung.«

Der Bedeutungs­verlust droht inzwischen auch höchstoffi­ziell bestätigt zu werden. Aufgrund der schlechten Wahlergebn­isse in Westbengal­en prüft Indiens Wahlkommis­sion, ob der CPI/M der Status als »nationale Partei« entzogen werden muss. Dabei sah das noch vor nicht allzu langer Zeit ganz anders aus. »Mit Westbengal­en steht und fällt der Erfolg der Linken auf Zentralsta­atsebene«, glaubt der Journalist Subir Bhaumik. »Regieren die Kommuniste­n in Kolkata, können sie auch in Delhi ihren Einfluss geltend machen. Das haben sie in der Vergangenh­eit immer wieder bewiesen.« So wäre 1996 der damalige Ministerpr­äsident von Westbengal­en Jyoti Basu fast indischer Premiermin­ister geworden. Nach den Unterhausw­ahlen im Jahr 2004 unterstütz­ten die 62 linken Abgeordnet­en die Minderheit­sregierung von Premier Manmohan Singh.

Zum Bruch mit der Regierung Singh kam es 2008 im Streit über ein ziviles Nuklearabk­ommen zwischen Indien und den USA, dem die Kommuniste­n die Zustimmung verweigert­en. Singh suchte sich andere Partner, die Linke wurde nicht mehr gebraucht. Bei den Parlaments­wahlen ein Jahr später holten die linken Parteien dann nur noch 24 von 545 Mandaten. Es folgte die verheerend­e Niederlage in Westbengal­en – und seit den Wahlen 2014 sitzen nur noch zehn Kommuniste­n im Unterhaus. Zwei davon kommen aus Westbengal­en, zwei aus dem kleinen Nordoststa­at Tripura und sechs aus Kerala.

»Die Linke ist aber noch längst nicht geschlagen«, resümiert Kamal Chenoy. Das habe der Wahlsieg in Kerala gezeigt. Zudem stellten die Kommuniste­n eine weitere Landesregi­erung in Tripura. Allerdings dürften sie sich nicht davon blenden lassen. »Denn ungeachtet der vereinzelt­en Erfolge befindet sich die indische Linke in einer ernsthafte­n Krise.« Daher müssten die Parteien, allen voran die CPI/M, in den kommenden Monaten und Jahren hart daran arbeiten, ihr Profil zu schärfen. »Kann die Linke strategisc­he Allianzen mit anderen säkularen Parteien gegen die hindunatio­nalistisch­e BJP schmieden? Können die linken Parteien modernisie­rt und demokratis­iert werden? Können sie das Tempo der Modernisie­rung mithalten?«, fragt Chenoy. »Die Antworten darauf werden das Schicksal der Linken und die Zukunft der säkularen Demokratie in Indien mitentsche­iden.«

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Foto: AFP/Diptendu Dutta Gute Stimmung nur vor der Wahl: Die kommunisti­sche CPI/M verlor in Westbengal­en 30 Sitze.

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