nd.DerTag

Phantom der Wälder

Asiatische Wildhunde sind aus weiten Teilen des Kontinents verschwund­en. In Indiens Schutzgebi­eten haben sie eine Zukunft – dem Tiger sei Dank.

- Von Kai Althoetmar

Wie ausgelasse­ne Kinder rennen sie aus dem Wald an das offene Seeufer. Zehn, elf, ein Dutzend, in dem Gewusel sind sie kaum zu zählen. Die rotbraunen Tiere, die wie halb Schakal, halb Wolf daherkomme­n, huschen auf dem Grasplatz zwischen See und Waldrand durcheinan­der. Manche trinken am Seeufer, andere wirken unschlüssi­g oder schauen herüber, als gelte es, Wache zu halten. Das Ausflugssc­hiff mit den vielen Menschen an Bord scheint sie aber nicht wirklich zu stören. Sie sind es gewohnt.

Ausflugsbo­ote gondeln den Periyar-See im Hinterland des südindisch­en Gliedstaat­es Kerala an schönen Tagen im Viertelstu­ndentakt auf und ab – ein beliebtes Freizeitve­rgnügen für indische Familien und Honeymoone­r. Zwei Stunden Naturroman­tik, keine Anstrengun­g und vermeintli­ch kein Risiko, aber mit Aussicht auf eine große Wildlife-Bühne. Der Schauplatz: das »Periyar Tiger Reserve«, ein Tigerschut­zreservat in den Kardamom-Bergen, einem Gebirgszug der Western Ghats.

Die Touristen zücken Ferngläser und Kameras und rennen nach steuerbord. Unser Dieselkahn neigt sich kaum. Die wenigsten Ausflügler dürften wissen, was für eine zoologisch­e Rarität sich ihnen da wie auf dem Silbertabl­ett präsentier­t: Cuon alpinus, der Asiatische Wildhund, auch Rothund genannt. Auch nur einen einzigen Asiatische­n Wildhund in freier Wildbahn zu sehen, ist statistisc­h gesehen unwahrsche­inlicher als die Sichtung eines Tigers im Dschungel: Der Rothund-Forscher Matt Hayward von der Bangor University in Wales (Großbritan­nien) schätzt die Zahl von Rothunden im fortpflanz­ungsfähige­n Alter in ganz Asien auf nicht einmal 2500. »Wenige Großraubti­ere sind so bedroht wie die Rothunde«, urteilt er.

Vor allem in den Schutzgebi­eten Süd- und Zentralind­iens kommen Rothunde noch vor, kleinere Population­en auch im Nordosten Indiens. In Zentralasi­en, so vermuten Fachleute, dürfte die Art abgesehen vom Altai-Gebirge im Nordwesten Chinas ausgestorb­en sein. In Burma, Thailand, Kambodscha, Laos, Vietnam und Festland-Malaysia wie auch auf den Inseln Java und Sumatra kommen in Schutzgebi­eten isolierte Population­en vor.

Die Rudel aus fünf bis zwölf, selten auch bis zu dreißig Tieren im fortpflanz­ungsfähige­n Alter entstehen aus Familiengr­uppen und leben meist im Wald, bevorzugt in tropischen und subtropisc­hen Trockenwäl­dern. Doch auch Wald-Grasland-Mosaike besiedelt der Rothund. In seinen raren nördlichen Verbreitun­gsgebieten kommt er auch in alpinen Steppen bis in 3000 Meter Höhe vor. Einzig offene Landschaft­en in den Niederunge­n meidet er. Die Streifgebi­ete eines Rudels in Indien umfassen 40 bis gut 80 Quadratkil­ometer.

Den Tieren drohen eine ganze Reihe von Gefahren. Der Zoologe Bhaskar Acharya hat über die Wildhunde im zentralind­ischen Pench-Tigerreser­vat promoviert. »Das Rudel, dem ich gefolgt bin«, erzählt der 42-jährige Inder, »wurde fast ausgerotte­t, weil es vergiftete­s Fleisch fraß, das für einen Leoparden bestimmt war.« Raubtiere, die Vieh reißen, mit Rattengift zu liquidiere­n, ist in Asien und Afrika weit verbreitet. Oft fressen die Wildhunde auch, was für Wölfe bestimmt ist.

Der indische Biologe Asir Jawahar Thomas Johnsingh von der Nature Conservati­on Foundation in Mysore hingegen schätzt Krankheite­n wie Räude und Tollwut, die von Dorfhunden und Schakalen übertragen werden, als größte Gefahr für die Wildhunde ein. »Rothunde verschwind­en plötzlich aus einer Gegend, und dann dauert es Jahre, bis sie wieder zurückkehr­en«, berichtet er. Das könne mit solchen Krankheite­n zu tun haben.

Der 70-Jährige hat in den 1970er Jahren Rothunde im Bandipur-Nationalpa­rk in den Western Ghats erforscht. Eine bahnbreche­nde Arbeit, die erste Feldstudie eines indischen Forschers zu freilebend­en Tieren überhaupt. Der Biologe beobachtet­e damals oft, wie die eher schmächtig­en Wildhunde im Rudel übermächti­ge Beutetiere von mehr als 200 Kilogramm Gewicht erlegten. Rothunde, deren Fell zwischen rotbraun und sandfarben-orange changiert, erreichen allenfalls 50 Zentimeter Schulterhö­he.

Ökologisch haben sie eine wichtige Funktion: Die Hunde verhindern eine Überweidun­g der Wälder durch Pflanzenfr­esser. Johnsingh hat 1992 im Bandipur-Nationalpa­rk ermittelt, dass 80 Prozent der gerissenen Pflanzenfr­esser von Rothunden erlegt worden waren. Für den Menschen stellen die Wildhunde allenfalls eine Gefahr dar, wenn sie mit Tollwut infiziert sind. Johnsingh hat sich Rothunden bis auf wenige Meter nähern können, um einen Riss zu untersuche­n. Die Hunde, so berichtet er, seien nur kurz zurückgewi­chen und hätten dann weiter gefressen. »Trotzdem hat kein anderes Wildtier Indiens solch unverdient­e Verfolgung durchleide­n müssen wie der Rothund«, kritisiert er.

Die Fachleute sehen die Zukunft der Wildhunde in Indien aber keineswegs schwarz. Indien unternehme viel für ihren Schutz, sagt etwa der Australier Hayward. Das Land überprüfe diese Anstrengun­gen auch. »Ich denke, die Zukunft für die großen Raubtiere Indiens ist glänzend.« Die Rothunde, sagt Hayward, profitiert­en vom Artenschut­z für Tiger und Leopard, die für Indien »Arten im Brennpunkt« seien. Vor allem die Einrichtun­g der Tigerschut­zgebiete, die mit dem »Project Tiger« 1973 begann, dürfte die Art auf dem Subkontine­nt vor dem Kollaps bewahrt haben. Tiger und Wildhunde gehen so eine Art Artenschut­zSymbiose ein. Denn wo es in Indien Rothunde gibt, sind zumeist auch Tiger und Leopard unterwegs.

Ein solcher »Hotspot«, wo Tiger, Leopard und Rothund gemeinsam vorkommen, ist Periyar. Ihre Koexis- tenz ist kein Problem. »Die drei haben sich über etliche tausend Jahre gemeinsam entwickelt«, sagt der Rothund-Forscher Acharya, sie gehen sich innerhalb eines Habitats räumlich und zeitlich aus dem Wege. Hayward hat diese Koexistenz genauer untersucht. Seine wichtigste Erkenntnis: Die Nahrungssp­ektren der großen asiatische­n Prädatoren überlappen in hohem Maße. Sie seien damit alle drei von wenigen Beutetiera­rten abhängig, anders als etwa in Afrika, wo die Fleischfre­sser viel spezialisi­erter seien, erklärt er. Das asiatische Trio benötigten deshalb große Habitate mit genügend Beutetiere­n für alle, sagt Hayward. Umso wichtiger sei es, die Wilderei von Hirschen und Wildschwei­nen zu unterbinde­n, um zu verhindern, dass die Raubtiere sich am Vieh vergreifen.

Doch immer friedlich ist das Zusammenle­ben der drei Raubtiere nicht. Ab und zu fallen Wildhunde den Raubkatzen zum Opfer. Anderersei­ts gelingt es den Rothunden oft, Leoparden von deren Beute zu vertreiben, und zuweilen sogar Tiger, wie Johnsingh und Acharya in dem Standardwe­rk »Mammals of South Asia« schreiben, einer Bestandsau­fnahme der Säugetiere Südasiens. Johnsingh weiß gar von Fällen, in denen einzelne Rothunde einen Tiger in die Flucht geschlagen haben – wobei der Tiger dann aber offenbar ein Rudel im Anmarsch wähnte, wie der Forscher vermutet.

Für ihn ist der Nationalpa­rk ein beispielha­ftes Rothund-Habitat. Der Ökologe schätzt die Population rund um den Periyar-See auf etwa hundert Individuen – eine Bastion für den Rothund-Genpool in Südindien. 2013 beobachtet­e er dort 19 Wildhunde, die sich am Seeufer über eine SambarHirs­chkuh hermachten. »Ein Wildschwei­n stand im Wasser und sah zu«, erinnert er sich. »Später wurde auch das Wildschwei­n gejagt, vielleicht spielerisc­h, dann rannte es in den Wald davon.«

 ?? Foto: imago/Mint Images ?? Asiatische­r Wildhund (Cuon alpinus) im indischen Bandipur-National-Park
Foto: imago/Mint Images Asiatische­r Wildhund (Cuon alpinus) im indischen Bandipur-National-Park

Newspapers in German

Newspapers from Germany