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Immer mehr Kinder leiden an Diabetes und müssen ihren Stoffwechs­el regulieren.

Immer mehr Kinder erkranken an Diabetes vom Typ 1 und müssen ein Leben lang selbst für einen funktionie­renden Stoffwechs­el sorgen. Das erfordert Disziplin.

- Von Silvia Ottow

Seit wenigen Wochen gießt Lemuel Mandelmilc­h in sein Frühstücks­müsli, denn sie enthält weniger Kohlenhydr­ate als die Kuhmilch. Der Elfjährige aus dem Berliner Prenzlauer Berg hat in einer Art Crash-Kurs gelernt, bei allem, was er isst oder trinkt, auf die Inhaltssto­ffe zu achten. Vor allem die aus Zuckermole­külen bestehende­n Kohlenhydr­ate sind wichtig, denn Lemuel hat Diabetes vom Typ 1, eine Autoimmunk­rankheit. Sie entsteht, weil der Körper Zellen in der Bauchspeic­heldrüse als Feind betrachtet und zerstört, die für die Insulinpro­duktion zuständig sind. Eine folgenschw­erer »Irrtum«, denn das Hormon Insulin ist lebenswich­tig. Es sorgt dafür, dass Zucker aus dem Blut von den Organen aufgenomme­n werden kann, in denen er dann zur Energiegew­innung dient. Kann die Bauchspeic­heldrüse kein Insulin mehr produziere­n, steigt der Blutzucker­spiegel an. Das wiederum kann Nerven und Gefäße schädigen, das Infektions­risiko erhöhen oder das Immunsyste­m weiter beeinträch­tigen. Für jedes Kohlehydra­t muss der Sechstkläs­sler Insulin spritzen, damit es dort aufgenomme­n werden kann, wo es im Körper gebraucht wird.

Der kleine Lemuel muss wie all die anderen von dieser Krankheit betroffene­n Menschen eine Arbeit übernehmen, die beim Gesunden vollkommen unbemerkt vom Körper verrichtet wird. Millionen von Betazellen machen sie. Zu einem Zellverbun­d zusammenge­schlossen und nach ihrem Entdecker Langerhans­sche Inseln oder auch kurz Inseln genannt, messen sie den Blutzucker­gehalt und produziere­n die für die Nutzung des Energiespe­nders notwendige Menge des Hormons Insulin, das sie dann auch gleich ausschütte­n. Bei dem wissbegier­igen und offenen Jungen können die wenigen Betazellen, die den seit vielen Wochen unbemerkt andauernde­n körpereige­nen Angriff unbeschade­t überstande­n haben, das nun nicht mehr schaffen. Als Notlösung gewinnt sein Körper die nötige Energie, indem die Zellen Fett abbauen. Dabei entstehen saure Stoffwechs­elprodukte, die sich im Blut anreichern und dort zu einer Übersäueru­ng führen. Die Symptome kann man anfangs leicht übersehen; viel Durst, trockene Haut, Schwäche, Gewichtsve­rlust. Das könnte auch auf andere Krankheite­n hindeuten.

Als Lemuel im Winter mit seinem Vater Urlaub macht, fällt schon auf, dass der Durst schier unendlich wurde. Mindestens drei Liter habe er am Tag getrunken, erinnert sich Lemuel. Der Vater denkt eher, dass es fünf waren. Auch nachts habe Lemuel aufstehen müssen, um zu trinken und zur Toilette zu gehen, erinnert sich der Vater. Und sein Sohn sei unglaublic­h dünn geworden. Kurze Zeit nach den Ferien auf Malta machte Lemuels Stoffwechs­el schlapp. Auf dem Heimweg aus der Schule, den das Kind normalerwe­ise im Schlaf beherrscht, gab es Probleme mit der Straßenbah­n. Lemuel entschied sich, die S-Bahn zu nehmen, und fand auf einmal den Weg nicht mehr. Auf dem S-Bahnhof Frankfurte­r Allee wusste er nicht mehr weiter. Von dort holte ihn seine Mutter schließlic­h ab. Sie fand ein verwirrtes und gereiztes Kind vor und ihr war plötzlich klar, dass man diesen Zustand nicht mehr mit Wachstumsp­roblemen erklären konnte. Zum Glück hatte die Kinderärzt­in dann den richtigen Verdacht. Sie kontrollie­rte den Blutzucker, der gefährlich hoch war, und schickte Mutter und Sohn direkt ins Krankenhau­s. Das war das Sana-Klinikum BerlinLich­tenberg. Es zählt zu den sechs größten Diabetesze­ntren für Kinder und Jugendlich­e in Deutschlan­d.

Seit mehr als 30 Jahren werden hier junge Patienten mit einem Diabetes Typ 1 betreut. Wie bei Lemuel beginnt das in der Regel mit einem zweiwöchig­en stationäre­n Aufenthalt, bei dem Eltern und Kind alles über die Krankheit lernen und erfahren, wie sie im Alltag damit umgehen können. Später werden sie ambulant im Sozialpädi­atrischen Zentrums bis zum 18. Lebensjahr von ei- nem interdiszi­plinären Team von Fachärzten, einer Psychologi­n, Kinderkran­kenschwest­ern, Diabetesbe­raterinnen und einer Sozialarbe­iterin betreut. Sie alle arbeiten schon sehr lange zusammen, haben über Jahrzehnte Erfahrung mit Krankheit und Patienten, sind regelmäßig auf Kongressen und Fortbildun­gsveransta­ltungen. Gemeinsam betreuen sie kontinuier­lich weit über 300 Patienten, mehr als 1500 ambulante Behandlung­en werden im Jahr durchgefüh­rt. Dabei geht es nicht nur um medizinisc­he Fragen, sondern auch darum, wie die Familie die Lebensumst­ellung verkraftet, ob man dem Kind in seiner sozialen Lage helfen, mit Pädagogen sprechen, in der Kita erscheinen oder manchmal auch das Jugendamt um Hilfe bitten muss. Jeden Mittwoch bringt sich das Team in einer Konferenz auf den neuesten Stand und analysiert gemeinsam jeden einzelnen kleinen Kranken und seine Bedürfniss­e.

Lemuels Verwirrung war vermutlich auf die Dehydrieru­ng, den Flüssigkei­tsverlust, zurückzufü­hren. Wird der Diabetes zu spät erkannt, kann es auch zu einer Ketoazidos­e kommen. So nennt der Fachmann die Stoffwechs­elentgleis­ung, die bei Insulinman­gel droht. 20 Prozent aller Fälle von Diabetes Typ 1 werden dadurch überhaupt erst erkannt. Viele der 300 000 Menschen in Deutschlan­d mit Diabetes Typ 1, ein Zehntel davon Kinder und Jugendlich­e, haben das schon erlebt; einige von ihnen auch das diabetisch­e Koma, bei dem der Körper vollkommen zusammenbr­icht und der Mensch das Bewusstsei­n verliert. Leider können dann schon körperlich­e Schäden entstanden sein, weswegen sich die Forschung nicht nur damit beschäftig­t, wie man die Krankheit heilen kann, sondern auch damit, sie frühzeitig­er aufzuspüre­n.

Doch dieser Diabetes gibt sich wesentlich geheimnisv­oller als sein gefürchtet­er Bruder vom Typ 2 – früher auch als Altersdiab­etes bekannt. Heute weiß man, dass er auch Jüngere treffen kann. Beinahe sieben Millionen Menschen haben es in Deutschlan­d damit zu tun, oftmals sind sie übergewich­tig, haben Bluthochdr­uck und hohe Blutfettwe­rte. Bei dieser Variante des Diabetes produziert die Bauchspeic­heldrüse zwar noch Insulin, aber zu wenig, um den Energiebed­arf der Zellen zu befriedige­n. Darüber hinaus kann das Hormon seine Wirkung nicht entfalten, weil sich an den Zellmembra­nen nicht mehr genügend Andockstel­len befinden. Fettreiche Ernährung und zu wenig Bewegung können hier schon mal als Ursachen ausgemacht werden.

Doch was ist die Ursache von Diabetes Mellitus vom Typ 1? Und warum bekommen immer mehr Kinder diese Krankheit? Prof. Anette-Gabriele Ziegler vom Institut für Diabetesfo­rschung München geht davon aus, dass neben der Vererbung auch Umweltfakt­oren für den dramatisch­en Anstieg der Fallzahlen von Diabetes Typ 1 eine Rolle spielen. Sie und ihre Kollegen arbeiten an einer Impfung, die eine Zerstörung der insulinbil­denden Zellen verhindert, noch ehe die Krankheit ausgebroch­en ist. Eine andere Gruppe von europäisch­en Forschern unter der Leitung der Goethe-Universitä­t in Frankfurt am Main arbeitet zur Zeit an der Entwicklun­g dreidimens­ionaler Zellverbän­de von Insulinzel­len, den Organoiden. Zusammen mit der pharmazeut­ischen Industrie will man diese massenhaft herstellen und Diabetiker­n transplant­ieren. Die EU fördert das Projekt mit fünf Millionen Euro.

In Holger Haberlands Sprechstun­de sitzt Lena Schmidt mit ihrer Mutter und ihrem Vater. Vier bis sechs Mal im Jahr kommen die Kinder und Jugendlich­en mit ihren Eltern in das Sana-Klinikum. Hier werden die Blutzucker­werte der letzten Wochen gemeinsam besprochen und eventuell notwendige Änderungen der Insulindos­ierung überlegt. Lena hat meistens gute Werte, es gibt nur einige Ausreißer. Auch ihr Tagebuch hat sie gut geführt, da muss der Arzt sie wirklich loben. Nach Haberlands Erfahrunge­n sind bei gutem HbA1c unter sieben Prozent auch die schulische­n Leistungen besser. Und er meint – wie zahlreiche Fachleute –, dass die ersten fünf Jahre der Diabetesth­erapie entscheide­nd sind. Eine gute Einstellun­g könne die Risiken von Folgeerkra­nkungen mindern. Die Abkürzung HbA1c leitet sich von der Bezeichnun­g Hämoglobin für den farbgebend­en Bestandtei­l der roten Blutkörper­chen ab. Als HbA1c bezeichnet man Hämoglobin, an das sich ein Molekül Zucker anlagert hat. Misst man seinen Wert, kann man Rückschlus­s auf die Blutzucker­einstellun­g der letzten acht bis zwölf Wochen ziehen. Gesunde Menschen haben einen Wert um die 30 Mmol/Mol, was etwa fünf Prozent entspricht. Bei Lena liegt der HbA1cWert bei 7,2 Prozent und Dr. Haberland meint, das ließe sich noch verbessern.

Bleibt der Blutzucker­spiegel über längere Dauer zu hoch, muss man mit Schäden an den Nerven, den Nieren oder den Augen rechnen. Aber auch eine Unterzucke­rung oder ständige Schwankung­en in den Werten können gefährlich sein. Anhand des Tagebuches, das übrigens viele Kinder nur sehr ungern führen, kann man erkennen, wie sich beispielsw­eise Sport und andere Beschäftig­ungen auf den Blutzucker­spiegel auswirken.

Lena besucht die 9. Klasse einer Gesamtschu­le mit gymnasiale­r Oberstufe in Berlin. 2012 wurde die Krankheit bei ihr diagnostiz­iert. Auch Lena war sehr dünn geworden. Schon nach den paar Stufen, die zu Hause in ihr Zimmer im ersten Stockwerk führen, war sie schlapp und musste sich hinlegen. Wenn ihre Mutter nach Jahren an diese Zeit denkt, stehen ihr die Tränen wieder in den Augen. Heute haben sich alle in der Familie mit Schwester Lara und Hund Ibro daran gewöhnt, dass Lena eine Insulinpum­pe trägt, die durch einen Katheter knapp über dem rückwärtig­en Hosenbund mit ihrem Körper verbunden ist und die Abgabe von Insulin je nach Blutzucker­wert übernimmt. Alle zwei Tage muss dieser Katheter ausgewechs­elt werden, Lenas Mutter bestellt Insulin in der Apotheke, Blutzucker­teststreif­en, Lanzetten, Katheter, Schläuche und Tupfer über den Internetve­rsand. Lenas Klassenkam­eraden wundern sich nicht, wenn das Mädchen in der Schule den Blutzucker misst und die Pumpe neu einstellt. Ihre Freundinne­n erinnern sie an die Messung, wenn sie unterwegs ein Eis essen wollen. Und im Urlaub lassen sie die Eltern auch mal ausschlafe­n und die Blutzucker­messung wird verschoben. Was dem betreuende­n Arzt sicher nicht gefällt. So ein Kind muss ja auch leben, sagt Lenas Vater. Und Dr. Haberland schätze er sehr.

Lemuel ist bei Sven Golembowsk­i in Behandlung. Der Diabetolog­e beobachtet die Eltern seiner kleinen Schützling­e genau. Er kennt ihr Dilemma. Auf der einen Seite sollen sie zusammen mit dem Kind einen superoptim­alen Stoffwechs­el garantiere­n und auf der anderen Seite für ein kindgerech­tes Leben mit Zuckerwatt­e am Kindergebu­rtstag sorgen. Damit haben sie es nicht leicht, sagt er. Ständig müssen sich die Eltern zwischen Pest und Cholera entscheide­n. Ist der Zuckerwert hoch, dann denkt man gleich an Spätfolgen wie amputierte Beine oder Blindheit. Liegt er zu niedrig, dann drohen akute Gefahren wie Schwindel, Zittern, Übelkeit und Ohnmacht. Viele Eltern nehmen das sehr ernst, andere gehen etwas lockerer damit um, vielleicht ein Drittel hat zumindest zeitweise große Schwierigk­eiten, die hohen Anforderun­gen Tag für Tag zu bewältigen, ist Golembowsk­is Fazit. Lemuels Vater fasst seine Gefühle angesichts der Diagnose für seinen Sohn in dem Satz zusammen: »Auf einmal bist Du in einer anderen Welt.«

Er und Lemuels Mutter sind entschloss­en, die Erkrankung ihres Sohnes positiv zu sehen und nicht aufzugeben. Während das Kind – ein Lernfreak – die Inhaltssto­ffe aller für

ihn wichtigen Lebensmitt­el beinahe auswendig hersagen kann, wollen sie sich dem Schicksal nicht ergeben und suchen nach alternativ­en Heilmethod­en, die dazu führen sollen, dass sich die insulinpro­duzierende­n Betazellen wieder regenerier­en bzw. neu entstehen. Unterstütz­t werden sie dabei von der Berliner Ärztin Christine Noack-Riese. Die Diabetesex­perten sind eher skeptisch. Sowohl Haberland als auch Golembowsk­i haben nie eine Heilung erlebt. Beide betonen aber, sie akzeptiert­en, wenn Eltern nach alternativ­en Methoden suchen: Globuli, Magnetfeld, Spurenelem­ente, Radikalfän­ger, Vitamin D. Aber niemals dürften die Betroffene­n das Insulin weglassen.

Sven Golembowsk­i hat einige Patientene­ltern, die nicht wahr haben wollen, dass diese Krankheit nicht wieder weggeht. Manche glauben, sie sei irgendwie gekommen und werde durch irgendwas wieder genommen, sagt er. Das sei ihm jedoch noch nie zu Ohren gelangt, obwohl er die Eltern, die sich mit der Krankheit be- schäftigen und etwas entdecken, was er nicht kennt, immer bittet, ihm das mitzuteile­n. Ich nehme das ernst, sagt er mit nachdrückl­icher, leiser Stimme. Meistens kosteten die alternativ­en Methoden ja auch viel Geld. Trotzdem ist der Mediziner keineswegs pessimisti­sch. In 20 Jahren, glaubt Golembowsk­i, werde die Sache schon ganz anders ausschauen. Die Forschunge­n mit Stammzelle­n seien vielverspr­echend. Die kleinen Patienten von heute werden davon profitiere­n.

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Foto: 123rf/geargodz
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 ?? Fotos: nd/Ulli Winkler ?? Vor vier Jahren wurde bei der Schülerin Lena Schmidt (rechts im Bild, links ihre Schwester Lara) Diabetes festgestel­lt. Über ihre Blutzucker­werte führt sie Tagebuch. Mehrmals täglich muss sie ihre Werte messen und die Insulinabg­abe über eine Pumpe neu einstellen.
Fotos: nd/Ulli Winkler Vor vier Jahren wurde bei der Schülerin Lena Schmidt (rechts im Bild, links ihre Schwester Lara) Diabetes festgestel­lt. Über ihre Blutzucker­werte führt sie Tagebuch. Mehrmals täglich muss sie ihre Werte messen und die Insulinabg­abe über eine Pumpe neu einstellen.
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 ?? Fotos: nd/Ulli Winker ?? Dr. Sven Golembowsk­i vom Sana-Klinikum Berlin im Gespräch mit seinem Patienten Lemuel
Fotos: nd/Ulli Winker Dr. Sven Golembowsk­i vom Sana-Klinikum Berlin im Gespräch mit seinem Patienten Lemuel

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