Immer mehr Kinder leiden an Diabetes und müssen ihren Stoffwechsel regulieren.
Immer mehr Kinder erkranken an Diabetes vom Typ 1 und müssen ein Leben lang selbst für einen funktionierenden Stoffwechsel sorgen. Das erfordert Disziplin.
Seit wenigen Wochen gießt Lemuel Mandelmilch in sein Frühstücksmüsli, denn sie enthält weniger Kohlenhydrate als die Kuhmilch. Der Elfjährige aus dem Berliner Prenzlauer Berg hat in einer Art Crash-Kurs gelernt, bei allem, was er isst oder trinkt, auf die Inhaltsstoffe zu achten. Vor allem die aus Zuckermolekülen bestehenden Kohlenhydrate sind wichtig, denn Lemuel hat Diabetes vom Typ 1, eine Autoimmunkrankheit. Sie entsteht, weil der Körper Zellen in der Bauchspeicheldrüse als Feind betrachtet und zerstört, die für die Insulinproduktion zuständig sind. Eine folgenschwerer »Irrtum«, denn das Hormon Insulin ist lebenswichtig. Es sorgt dafür, dass Zucker aus dem Blut von den Organen aufgenommen werden kann, in denen er dann zur Energiegewinnung dient. Kann die Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr produzieren, steigt der Blutzuckerspiegel an. Das wiederum kann Nerven und Gefäße schädigen, das Infektionsrisiko erhöhen oder das Immunsystem weiter beeinträchtigen. Für jedes Kohlehydrat muss der Sechstklässler Insulin spritzen, damit es dort aufgenommen werden kann, wo es im Körper gebraucht wird.
Der kleine Lemuel muss wie all die anderen von dieser Krankheit betroffenen Menschen eine Arbeit übernehmen, die beim Gesunden vollkommen unbemerkt vom Körper verrichtet wird. Millionen von Betazellen machen sie. Zu einem Zellverbund zusammengeschlossen und nach ihrem Entdecker Langerhanssche Inseln oder auch kurz Inseln genannt, messen sie den Blutzuckergehalt und produzieren die für die Nutzung des Energiespenders notwendige Menge des Hormons Insulin, das sie dann auch gleich ausschütten. Bei dem wissbegierigen und offenen Jungen können die wenigen Betazellen, die den seit vielen Wochen unbemerkt andauernden körpereigenen Angriff unbeschadet überstanden haben, das nun nicht mehr schaffen. Als Notlösung gewinnt sein Körper die nötige Energie, indem die Zellen Fett abbauen. Dabei entstehen saure Stoffwechselprodukte, die sich im Blut anreichern und dort zu einer Übersäuerung führen. Die Symptome kann man anfangs leicht übersehen; viel Durst, trockene Haut, Schwäche, Gewichtsverlust. Das könnte auch auf andere Krankheiten hindeuten.
Als Lemuel im Winter mit seinem Vater Urlaub macht, fällt schon auf, dass der Durst schier unendlich wurde. Mindestens drei Liter habe er am Tag getrunken, erinnert sich Lemuel. Der Vater denkt eher, dass es fünf waren. Auch nachts habe Lemuel aufstehen müssen, um zu trinken und zur Toilette zu gehen, erinnert sich der Vater. Und sein Sohn sei unglaublich dünn geworden. Kurze Zeit nach den Ferien auf Malta machte Lemuels Stoffwechsel schlapp. Auf dem Heimweg aus der Schule, den das Kind normalerweise im Schlaf beherrscht, gab es Probleme mit der Straßenbahn. Lemuel entschied sich, die S-Bahn zu nehmen, und fand auf einmal den Weg nicht mehr. Auf dem S-Bahnhof Frankfurter Allee wusste er nicht mehr weiter. Von dort holte ihn seine Mutter schließlich ab. Sie fand ein verwirrtes und gereiztes Kind vor und ihr war plötzlich klar, dass man diesen Zustand nicht mehr mit Wachstumsproblemen erklären konnte. Zum Glück hatte die Kinderärztin dann den richtigen Verdacht. Sie kontrollierte den Blutzucker, der gefährlich hoch war, und schickte Mutter und Sohn direkt ins Krankenhaus. Das war das Sana-Klinikum BerlinLichtenberg. Es zählt zu den sechs größten Diabeteszentren für Kinder und Jugendliche in Deutschland.
Seit mehr als 30 Jahren werden hier junge Patienten mit einem Diabetes Typ 1 betreut. Wie bei Lemuel beginnt das in der Regel mit einem zweiwöchigen stationären Aufenthalt, bei dem Eltern und Kind alles über die Krankheit lernen und erfahren, wie sie im Alltag damit umgehen können. Später werden sie ambulant im Sozialpädiatrischen Zentrums bis zum 18. Lebensjahr von ei- nem interdisziplinären Team von Fachärzten, einer Psychologin, Kinderkrankenschwestern, Diabetesberaterinnen und einer Sozialarbeiterin betreut. Sie alle arbeiten schon sehr lange zusammen, haben über Jahrzehnte Erfahrung mit Krankheit und Patienten, sind regelmäßig auf Kongressen und Fortbildungsveranstaltungen. Gemeinsam betreuen sie kontinuierlich weit über 300 Patienten, mehr als 1500 ambulante Behandlungen werden im Jahr durchgeführt. Dabei geht es nicht nur um medizinische Fragen, sondern auch darum, wie die Familie die Lebensumstellung verkraftet, ob man dem Kind in seiner sozialen Lage helfen, mit Pädagogen sprechen, in der Kita erscheinen oder manchmal auch das Jugendamt um Hilfe bitten muss. Jeden Mittwoch bringt sich das Team in einer Konferenz auf den neuesten Stand und analysiert gemeinsam jeden einzelnen kleinen Kranken und seine Bedürfnisse.
Lemuels Verwirrung war vermutlich auf die Dehydrierung, den Flüssigkeitsverlust, zurückzuführen. Wird der Diabetes zu spät erkannt, kann es auch zu einer Ketoazidose kommen. So nennt der Fachmann die Stoffwechselentgleisung, die bei Insulinmangel droht. 20 Prozent aller Fälle von Diabetes Typ 1 werden dadurch überhaupt erst erkannt. Viele der 300 000 Menschen in Deutschland mit Diabetes Typ 1, ein Zehntel davon Kinder und Jugendliche, haben das schon erlebt; einige von ihnen auch das diabetische Koma, bei dem der Körper vollkommen zusammenbricht und der Mensch das Bewusstsein verliert. Leider können dann schon körperliche Schäden entstanden sein, weswegen sich die Forschung nicht nur damit beschäftigt, wie man die Krankheit heilen kann, sondern auch damit, sie frühzeitiger aufzuspüren.
Doch dieser Diabetes gibt sich wesentlich geheimnisvoller als sein gefürchteter Bruder vom Typ 2 – früher auch als Altersdiabetes bekannt. Heute weiß man, dass er auch Jüngere treffen kann. Beinahe sieben Millionen Menschen haben es in Deutschland damit zu tun, oftmals sind sie übergewichtig, haben Bluthochdruck und hohe Blutfettwerte. Bei dieser Variante des Diabetes produziert die Bauchspeicheldrüse zwar noch Insulin, aber zu wenig, um den Energiebedarf der Zellen zu befriedigen. Darüber hinaus kann das Hormon seine Wirkung nicht entfalten, weil sich an den Zellmembranen nicht mehr genügend Andockstellen befinden. Fettreiche Ernährung und zu wenig Bewegung können hier schon mal als Ursachen ausgemacht werden.
Doch was ist die Ursache von Diabetes Mellitus vom Typ 1? Und warum bekommen immer mehr Kinder diese Krankheit? Prof. Anette-Gabriele Ziegler vom Institut für Diabetesforschung München geht davon aus, dass neben der Vererbung auch Umweltfaktoren für den dramatischen Anstieg der Fallzahlen von Diabetes Typ 1 eine Rolle spielen. Sie und ihre Kollegen arbeiten an einer Impfung, die eine Zerstörung der insulinbildenden Zellen verhindert, noch ehe die Krankheit ausgebrochen ist. Eine andere Gruppe von europäischen Forschern unter der Leitung der Goethe-Universität in Frankfurt am Main arbeitet zur Zeit an der Entwicklung dreidimensionaler Zellverbände von Insulinzellen, den Organoiden. Zusammen mit der pharmazeutischen Industrie will man diese massenhaft herstellen und Diabetikern transplantieren. Die EU fördert das Projekt mit fünf Millionen Euro.
In Holger Haberlands Sprechstunde sitzt Lena Schmidt mit ihrer Mutter und ihrem Vater. Vier bis sechs Mal im Jahr kommen die Kinder und Jugendlichen mit ihren Eltern in das Sana-Klinikum. Hier werden die Blutzuckerwerte der letzten Wochen gemeinsam besprochen und eventuell notwendige Änderungen der Insulindosierung überlegt. Lena hat meistens gute Werte, es gibt nur einige Ausreißer. Auch ihr Tagebuch hat sie gut geführt, da muss der Arzt sie wirklich loben. Nach Haberlands Erfahrungen sind bei gutem HbA1c unter sieben Prozent auch die schulischen Leistungen besser. Und er meint – wie zahlreiche Fachleute –, dass die ersten fünf Jahre der Diabetestherapie entscheidend sind. Eine gute Einstellung könne die Risiken von Folgeerkrankungen mindern. Die Abkürzung HbA1c leitet sich von der Bezeichnung Hämoglobin für den farbgebenden Bestandteil der roten Blutkörperchen ab. Als HbA1c bezeichnet man Hämoglobin, an das sich ein Molekül Zucker anlagert hat. Misst man seinen Wert, kann man Rückschluss auf die Blutzuckereinstellung der letzten acht bis zwölf Wochen ziehen. Gesunde Menschen haben einen Wert um die 30 Mmol/Mol, was etwa fünf Prozent entspricht. Bei Lena liegt der HbA1cWert bei 7,2 Prozent und Dr. Haberland meint, das ließe sich noch verbessern.
Bleibt der Blutzuckerspiegel über längere Dauer zu hoch, muss man mit Schäden an den Nerven, den Nieren oder den Augen rechnen. Aber auch eine Unterzuckerung oder ständige Schwankungen in den Werten können gefährlich sein. Anhand des Tagebuches, das übrigens viele Kinder nur sehr ungern führen, kann man erkennen, wie sich beispielsweise Sport und andere Beschäftigungen auf den Blutzuckerspiegel auswirken.
Lena besucht die 9. Klasse einer Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in Berlin. 2012 wurde die Krankheit bei ihr diagnostiziert. Auch Lena war sehr dünn geworden. Schon nach den paar Stufen, die zu Hause in ihr Zimmer im ersten Stockwerk führen, war sie schlapp und musste sich hinlegen. Wenn ihre Mutter nach Jahren an diese Zeit denkt, stehen ihr die Tränen wieder in den Augen. Heute haben sich alle in der Familie mit Schwester Lara und Hund Ibro daran gewöhnt, dass Lena eine Insulinpumpe trägt, die durch einen Katheter knapp über dem rückwärtigen Hosenbund mit ihrem Körper verbunden ist und die Abgabe von Insulin je nach Blutzuckerwert übernimmt. Alle zwei Tage muss dieser Katheter ausgewechselt werden, Lenas Mutter bestellt Insulin in der Apotheke, Blutzuckerteststreifen, Lanzetten, Katheter, Schläuche und Tupfer über den Internetversand. Lenas Klassenkameraden wundern sich nicht, wenn das Mädchen in der Schule den Blutzucker misst und die Pumpe neu einstellt. Ihre Freundinnen erinnern sie an die Messung, wenn sie unterwegs ein Eis essen wollen. Und im Urlaub lassen sie die Eltern auch mal ausschlafen und die Blutzuckermessung wird verschoben. Was dem betreuenden Arzt sicher nicht gefällt. So ein Kind muss ja auch leben, sagt Lenas Vater. Und Dr. Haberland schätze er sehr.
Lemuel ist bei Sven Golembowski in Behandlung. Der Diabetologe beobachtet die Eltern seiner kleinen Schützlinge genau. Er kennt ihr Dilemma. Auf der einen Seite sollen sie zusammen mit dem Kind einen superoptimalen Stoffwechsel garantieren und auf der anderen Seite für ein kindgerechtes Leben mit Zuckerwatte am Kindergeburtstag sorgen. Damit haben sie es nicht leicht, sagt er. Ständig müssen sich die Eltern zwischen Pest und Cholera entscheiden. Ist der Zuckerwert hoch, dann denkt man gleich an Spätfolgen wie amputierte Beine oder Blindheit. Liegt er zu niedrig, dann drohen akute Gefahren wie Schwindel, Zittern, Übelkeit und Ohnmacht. Viele Eltern nehmen das sehr ernst, andere gehen etwas lockerer damit um, vielleicht ein Drittel hat zumindest zeitweise große Schwierigkeiten, die hohen Anforderungen Tag für Tag zu bewältigen, ist Golembowskis Fazit. Lemuels Vater fasst seine Gefühle angesichts der Diagnose für seinen Sohn in dem Satz zusammen: »Auf einmal bist Du in einer anderen Welt.«
Er und Lemuels Mutter sind entschlossen, die Erkrankung ihres Sohnes positiv zu sehen und nicht aufzugeben. Während das Kind – ein Lernfreak – die Inhaltsstoffe aller für
ihn wichtigen Lebensmittel beinahe auswendig hersagen kann, wollen sie sich dem Schicksal nicht ergeben und suchen nach alternativen Heilmethoden, die dazu führen sollen, dass sich die insulinproduzierenden Betazellen wieder regenerieren bzw. neu entstehen. Unterstützt werden sie dabei von der Berliner Ärztin Christine Noack-Riese. Die Diabetesexperten sind eher skeptisch. Sowohl Haberland als auch Golembowski haben nie eine Heilung erlebt. Beide betonen aber, sie akzeptierten, wenn Eltern nach alternativen Methoden suchen: Globuli, Magnetfeld, Spurenelemente, Radikalfänger, Vitamin D. Aber niemals dürften die Betroffenen das Insulin weglassen.
Sven Golembowski hat einige Patienteneltern, die nicht wahr haben wollen, dass diese Krankheit nicht wieder weggeht. Manche glauben, sie sei irgendwie gekommen und werde durch irgendwas wieder genommen, sagt er. Das sei ihm jedoch noch nie zu Ohren gelangt, obwohl er die Eltern, die sich mit der Krankheit be- schäftigen und etwas entdecken, was er nicht kennt, immer bittet, ihm das mitzuteilen. Ich nehme das ernst, sagt er mit nachdrücklicher, leiser Stimme. Meistens kosteten die alternativen Methoden ja auch viel Geld. Trotzdem ist der Mediziner keineswegs pessimistisch. In 20 Jahren, glaubt Golembowski, werde die Sache schon ganz anders ausschauen. Die Forschungen mit Stammzellen seien vielversprechend. Die kleinen Patienten von heute werden davon profitieren.