Türkisches Fahnenmeer in Köln
Zehntausende demonstrierten am Rhein für Erdogans Verständnis von Demokratie
Köln. »Erdogan ist ein Streiter für Freiheiten« war am Sonntag in Köln bei der Großkundgebung mit rund 20 000 Teilnehmern auf einem der vielen Plakate zu lesen. »Erdowahn stoppen« stand auf einem der Schilder, mit denen zur gleichen Zeit rund 650 Kritiker des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auf der anderen Rheinseite demonstrieren. Bis zum Abend war die Demonstration, die bei ndRedaktionsschluss anhielt, entgegen vorherigen Befürchtungen friedlich geblieben. Nach ersten Verbotserwägungen hatte in Ankara vor allem für Verstimmung gesorgt, dass die LiveÜbertragung einer Rede von Erdogan auf ei- ner Leinwand behördlich untersagt worden war. Das sei ein »inakzeptabler Zustand«, klagte Erdogan-Sprecher Ibrahim Kalin am Sonntag in Ankara. Die Veranstalter waren gerichtlich in einem Eilverfahren gegen das Verbot vorgegangen, dass türkische Politiker wie Erdogan live zugeschaltet werden, scheiterten am Samstag aber vor dem Bundesverfassungsgericht. 2700 Polizisten waren eingesetzt, um neben der Erdogan-Demo weitere vier Demonstrationen auseinanderzuhalten. Eine Gegendemo der rechtspopulistischen Partei »Pro Köln«, nebst Nazi-, Hogesa- und Pegida-Anhang, brachte rund 250 Teilnehmer auf die Straße. Als sich diese entgegen der Auflagen in Bewegung setzen wollten, löste die Polizei den Aufmarsch auf.
Auch gegenüber der Europäischen Union verschärft sich der Ton aus Ankara. Die Türkei verlangt ultimativ bis spätestens Oktober die zugesagte Visumfreiheit für ihre Bürger. Andernfalls will die Regierung das Flüchtlingsabkommen mit der EU aufkündigen, wie Außenminister Mevlüt Cavusoglu der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« sagte. Seine Regierung erwarte einen konkreten Termin. »Es kann Anfang oder Mitte Oktober sein – aber wir erwarten ein festes Datum.«
Die Türkei ist für die EU ein Wirtschaftsfaktor. Wie schnell sich hier der Wind dreht, zeigt Turkstream, ein Projekt, mit dem Ankara sich Moskau zuwendet. Totgesagte leben länger, es gibt sogar Auferstehungslegenden. Turkstream gehört dazu: eine Pipeline, die unter Umgehung der Ukraine durch das Schwarze Meer verlegt und die Türkei sowie Südeuropa stabil mit russischem Gas versorgen soll. Darauf hatten sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin bei dessen Ankara-Besuch im Dezember 2014 verständigt. Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets knapp ein Jahr später senkte der Kremlchef den Daumen über das Pro- jekt. Nun aber, nachdem Erdogan mit einer umstrittenen Entschuldigung für gut Wetter bei Putin gesorgt hat, peilen beide einen Neustart an. Über Grundsätzliches verhandelte eine von Vizepremier Mehmet Simsek geführte Delegation in der vergangenen Woche in Moskau. Mit Details soll sich eine gemeinsame Arbeitsgruppe befassen. Sie tagt Ende dieser Woche, kurz bevor Erdogan am 9. August zu Putin nach St. Petersburg jettet.
Die Initiative zum Neustart von Turkstream wie für den ursprünglich für September geplanten Versöhnungsgipfel sei von Ankara ausgegangen, behaupten Experten. Wegen westlicher Kritik an Erdogans rigidem innenpolitischen Vorgehen nach dem missglückten Staatsstreich sehe sich die Türkei als »belagerte Festung« wie Russland und suche dessen Nähe. Bei Turkstream werde der türkische Staatskonzern BOTAS für Gasprom daher ein sehr viel pflegeleichterer Verhandlungspartner sein als bisher.
Ankara hatte zunächst die Unter- zeichnung eines juristisch verbindlichen Vertrages mit immer neuen Rabattforderungen torpediert, dann geringeren Bedarf angemeldet, so dass ab Mitte 2015 statt über vier nur noch über zwei Stränge verhandelt wurde. Gasprom konterte mit Wiederaufnahme der Verhandlungen zu Nordstream – einem Double der bereits bestehenden Ostseepipeline, die Deutschland und Nordwesteuropa beliefert. Russland und die EU hatten das Projekt im Zuge von Sanktionen und Gegensanktionen auf Eis gelegt.
Es gebe Bewegung, schreibt die Wirtschaftszeitung Wedomosti. Moskau werde daher versuchen, mit Nordstream-2 die Türken unter Druck zu setzen und mit Turkstream die Europäer. Das reale Drohpotenzial halte sich in Grenzen, glauben Branchenexperten. In der Tat.
Bei der Schwarzmeerpipeline ist Gasprom bereits mit 400 Milliarden Rubel (ca. 5,5 Millionen Euro) in Vorleistung gegangen. Vor allem für die Infrastruktur auf russischem Gebiet. Die aber ist auf eine Jahresleistung von 63 Mrd. Kubikmetern und damit auf vier Stränge ausgelegt. Verhandelt wird indes nur noch über zwei. Einer davon steht und fällt mit der Weiterleitung des Gases nach Südeuropa. Die Finanzierung ist unklar. Weil Europa aus politischen Gründen eine Diversifizierung der Gaslieferungen will, sei auch mit massivem Widerstand gegen die Poseidon-Pipeline zu rechnen. Sie soll russisches Gas von Griechenland nach Süditalien pumpen.
Allein für die Versorgung der Türkei aber reicht ein Strang. Für Gasprom ein Verlustgeschäft. Sollte der Staatskonzern es aus politischen Gründen dennoch durchziehen, ist ebenfalls fraglich, ob es lohnt. Erdogan, warnen Türkei-Kenner, sei nur zu einem situativen Bündnis mit Russland bereit. Stellt er die Westbindung der Türkei in Frage, würden die Generäle womöglich erneut putschen. Und dann vielleicht mit Erfolg.
Die Initiative zum Neustart von Turkstream wie für den Versöhnungsgipfel sei von Ankara ausgegangen, behaupten Experten.