Langsam, aber wütend
John Irving über die Verpflichtung des Schriftstellers, sich politisch einzumischen
Der Autor John Irving über Glaube, Liebe, Trump.
Mr. Irving, der Schriftsteller Juan Diego in Ihrem neuen Roman »Straße der Wunder« erscheint seinem Umfeld als jemand, der ein Risiko nicht in der Realität, sondern in seiner Phantasie eingeht. Lebt man als Schriftsteller generell mehr in seiner Phantasie? Juan Diego ist jemand, der weniger in der Gegenwart lebt als in seinen Gedanken an die Vergangenheit, die Erinnerungen daran, was ihm als Kind und als junger Erwachsener in Mexiko widerfahren ist. Sein Erwachsenenleben ist für ihn viel weniger im Fokus. Für ihn passt es, dass er ein Schriftsteller ist, jemand, der in seiner Phantasie lebendiger ist. Ich würde davon aber keine Rückschlüsse auf andere Schriftsteller ziehen. Dennoch erfährt man aus Ihren Büchern sehr viel über das Schriftstellerdasein. Von den Protagonisten in meinen 14 Romanen waren fünf Schriftsteller. Allerdings nicht, weil ich an Schriftstellern interessiert wäre, sondern weil ich dadurch die Figuren der Gefahr ausgesetzt habe, dass sie auf- grund ihrer Phantasie abgelenkt sind, von der Realität, die sie umgibt. Anders gefragt: Ist es möglich, ein guter Schriftsteller zu werden, wenn man nur in seiner Phantasie Risiken eingeht? Natürlich ist es das. Ich glaube nicht daran, dass du ein gefährliches Leben gehabt haben musst, um ein guter Schriftsteller zu werden. Herman Melville war Zollinspektor – und ich denke nicht, dass sein Leben als Zollinspektor furchtbar aufregend war. Ihm wurde auch kein Bein von einem Hai abgebissen. Aber er hat ein besseres Buch über den Walfang geschrieben als jeder andere, der tatsächlich Wale gefangen hat. Wir erleben seit einiger Zeit wieder eine Debatte um Glauben und Religion. Was kann Ihr Roman, der sich auch mit der katholischen Kirche befasst, zur Diskussion beitragen? Ich mache im Buch ja einen Unterschied zwischen dem Glauben und der Institution Kirche, den menschengemachten Regeln, den Strategien und der Politik. Diese Unterscheidung macht Juan Diego schon als Kind, genauso wie seine Schwester Lupe, sie stehen der Institution Kirche sehr kritisch gegenüber. Aber Juan Diego ist ein Kind des Glaubens, ihm erscheint auch ein echtes Wunder, eine Jungfrauen-Statue, die Tränen vergießt. Ein Wunder mit Folgen ... Ja, ohne diese Tränen hätte die katholische Kirche wahrscheinlich nicht diesen 14-jährigen Waisen in die Hand von zwei schwulen Männern gegeben. Sprich, dafür, dass ein Waise, der in der Obhut der katholischen Kirche ist, von zwei schwulen Männern adoptiert werden darf, braucht es ein Wunder. Wunder bilden ja den Kern jeder Religion. Mohammed ist ein Wunder, genauso Maria und Jesus. Aber es besteht eben ein Unterschied zwischen dem Glauben an diese Wunder und den schrecklich unzeitgemäßen Regeln und Politiken aller Kirchen. Die werden nicht dem gerecht, woran die Menschen tatsächlich glauben. Worin konkret sehen Sie die Gegensätze? In Nordamerika glauben die meisten Katholiken an das Recht einer Frau auf Abtreibung und die meisten Katholiken befürworten die gleichgeschlechtliche Ehe. Ihre Kirche tut es nicht. Die meisten gläubigen Katholi- ken glauben anders als ihre Kirche. Jede Kirche, Synagoge oder Moschee ist ja selten leer, die Leute kommen und beten, sie bitten um etwas. Sie bitten aber nicht den Rabbi, den Mullah oder den Priester. In »Straße der Wunder« verliebt sich ein Priester in eine TransgenderProstituierte. Schon in »Garp« haben Sie über unterschiedliche sexuelle Orientierungen geschrieben – fühlen Sie sich manchmal Ihrer Zeit voraus? Ich habe mich immer dafür interessiert, wie die Leute aufgrund von sexuellen Unterschieden misshandelt, falsch verurteilt oder abgelehnt werden. »Garp« war damals ein Roman über sexuellen Hass, eine Reaktion auf etwas, das bis heute Bestand hat: das Scheitern der sogenannten »sexuellen Revolution«. Warum ist diese Revolution gescheitert? Wenn man das, was damals geschah, eine »Revolution« oder »Befreiung« nennt – wovon zum Teufel reden wir dann? Warum hassen sich die Leute dann immer noch für ihre unterschiedlichen sexuellen Orientierungen? Warum werden sexuelle Minderheiten dann immer noch verhöhnt und abgestempelt? Wie haben Sie damals über diese Zustände gedacht? Ich dachte: Das wird mit der Zeit verschwinden, ich war überzeugt, dass »Garp und wie er die Welt sah« nach zehn Jahren ein historischer Roman wäre. Aber dem ist nicht so. Ich betrachte mich selbst nicht als hellseherisch oder meiner Zeit voraus. Ich habe damals über etwas geschrieben – und das tue ich oft –, weil ich mich darüber geärgert habe. »Garp« wird nun im TV wieder zum Leben erweckt. Warum? Ich hätte den Roman für diese HBOSerie nicht adaptiert, wenn ich überzeugt gewesen wäre, dass sexuelle Unterschiede heute umfassend toleriert und befürwortet werden. Das werden sie aber nicht. Sexuelle Intoleranz ist nicht verschwunden. Kürzlich stand in der New York Times, dass die Republikaner Transgender-Kinder von den Toiletten fern halten wollen – das letzte Mal, als wir Menschen von Toiletten fernhalten wollten, war zur Würden Sie sagen, dass Sie als Autor mit großer Leserschaft auch eine gewisse Verantwortung tragen? Nein. Wenn ich das als »Verantwortung« bezeichnen würde, würde das ja bedeuten, dass ich von jedem Autor verlange, es mir gleich zu tun. Aber so sehe ich Schriftstellerei nicht. Ich mag es nicht, wenn Autoren sagen: Meine Art zu schreiben, ist die richtige, oder: Wie ich Dinge betrachte, sollten alle Autoren die Dinge betrachten. Genauso wenig erwarte ich von jemandem, der nicht politisch ist, politisch zu sein. Ihr Anspruch an sich selbst scheint aber ein anderer zu sein. Ganz ehrlich: Von meinen 14 Romanen, wie viele davon waren wirklich politisch? Wenn man Sexualpolitik hinzunimmt, sind es 7, das ist nur die Hälfte und wenn man die Sexualpolitik rauslässt, nur fünf. Es geht bei mir also nicht immer um Politik. Ich fühle da keinerlei Verpflichtung. Auch nicht die Verpflichtung, Ihre Leser vor Politikern wie Donald Trump zu warnen? Sie müssen bedenken, dass ich für die meisten meiner Romane acht bis zehn Jahre gebraucht habe, wahrscheinlich bin ich der langsamste Schriftsteller, den es gibt. Wenn ich also die ersten Zeilen verfasse, dann schreibe ich nicht über so ein aktuelles Phänomen wie Donald Trump. Mein Interesse an Mexiko und der Geschichte eines Amerikaners mit mexikanischen Wurzeln ist 25 Jahre älter als Mr. Trumps blöde Idee, eine Mauer zu bauen.
»Mein Interesse an Mexiko und der Geschichte eines Amerikaners mit mexikanischen Wurzeln ist 25 Jahre älter als Mr. Trumps blöde Idee, eine Mauer zu bauen.« Zeit der Rassentrennung. Insofern: Es hat sich nicht viel verändert, was Toleranz und Akzeptanz betrifft. Deswegen schreibe ich immer noch drüber.