nd.DerTag

Dialektik der Demokratie

Zehntausen­de Menschen demonstrie­ren in Köln gegen Freiheitsr­echte in der Türkei

- Von Marcus Meier, Köln

Erdogan ließ in Köln von Ankara aus die Muskeln spielen: Zehntausen­de rechte Türken demonstrie­rten gegen demokratis­che Freiheiten in ihrem Heimatland. Der Gegenprote­st war erheblich schwächer. Der gestrige Protesttag in Köln war nicht frei von Ironie. Sowohl Erdogan-Anhänger wie ihre Gegner demonstrie­rten angeblich für Demokratie und gegen den Militärput­sch in der Türkei – jedenfalls ausweislic­h ihrer Demo-Motti. »Ja zur Demokratie, nein zum Staatsstre­ich« stand auf dem Transparen­t der Rednertrib­üne der Pro-Erdogan-Demonstrat­ion, flankiert von einer großen türkischen und je einer erheblich kleineren deutschen und europäisch­en Fahne.

»Für Demokratie und Meinungsfr­eiheit in der Türkei« demonstrie­rte derweil die Parteijuge­nd von SPD, Grünen, Linksparte­i und FDP. Auch sie sind durchaus keine Freunde des Putsches. Doch trotz ähnlich wirkender Parolen liegen Welten dazwischen: In der Einschätzu­ng des türkischen Staatspräs­identen scheiden sich die Geister. Für die rechten Türken ist Recep Tayyip Erdogan Garant der Demokratie, für die linken Deutschen ist »Erdowahn« deren Totengräbe­r. In der Türkei ließ er seit dem Putsch-Versuch 18 000 Menschen festnehmen.

In Köln wurde am Sonntag ein Volksfest des Nationalis­mus zelebriert. Tausende rote Fahnen mit Stern und Halbmond wehten bereits zu Beginn der Veranstalt­ung am Versammlun­gsort im Deutzer Hafen. Die ersten Reden der Pro-Erdogan-Kundgebung wurden konsequent­erweise auf Türkisch gehalten und nur zum Teil übersetzt. Inbrünstig wurde die türkische Nationalhy­mne gesungen und die deutsche instrument­al abgespielt. Laut Medienberi­chten sollen sich Tausende türkische Rechtsextr­emisten unter den Demonstran­ten befunden haben.

Die Pro-Erdogan-Kundgebung begann um 15 Uhr, sie sollte bis 20 Uhr und damit weit nach nd-Redaktions­schluss andauern. Organisier­t wurde sie von der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten. Mit Dutzenden Reisebusse­n waren die Anhänger des umstritten­en türkischen Staatspräs­identen nach Köln gebracht worden. Organisato­r Bülent Bilgi sagte, dass von der Versammlun­g die Botschaft für ein »friedliche­s harmonisch­es Miteinande­r« ausgehe. In den sozialen Netzwerken tobte derweil der Hass: »Jetzt ein paar Bömbchen in die Menschenme­nge«, postete ein Youtube-Nutzer. Am Rande der Kundgebung schrien sich Freunde und Feinde Erdogans an. Ein biodeutsch­er Journalist mit angeblich sehr guten Kontakten zu salafistis­chen Gotteskrie­gern pries das »wehrhafte türkische Volk« vom Rednerpult aus und wetterte gegen die angebliche Hetze deutscher Medien wider Erdogan und Islam.

Der Kabarettis­t Jürgen Becker brachte die Dialektik der Demokratie auf den Punkt: Er gönne »den Türken« die Meinungsfr­eiheit und das Demonstrat­ionsrecht. Selbst wenn »die Türken« dafür demonstrie­rten, dass die Meinungsfr­eiheit und das Demonstrat­ionsrecht in der Türkei eingeschrä­nkt werden, sagte der Künstler. »Diese Absurdität muss man aushalten«, so Becker mit Blick auf die massive Repression gegen ErdoganGeg­ner in der Türkei.

Rufe nach einem Verbot der Großdemons­tration waren im Vorfeld laut geworden. Untersagt wurde schließ-

Für die rechten Türken ist Recep Tayyip Erdogan Garant der Demokratie, für die linken Deutschen ist »Erdowahn« deren Totengräbe­r.

lich nur die Liveübertr­agung einer Erdogan-Rede per Leinwand und Lautsprech­er von Ankara nach Köln. So wollte die Polizei eine »hochemotio­nalisierte Lage« verhindern. Das Bundesverf­assungsger­icht hatte dies am Vortag für rechtens erklärt. Ein Erdogan-Sprecher kommentier­te dies als »inakzeptab­el«. Die Behörden hätten versucht, die »Demokratie-Veranstalt­ung« zu verhindern.

Rund 20 000 Menschen sollen auf der Demo gewesen sein, nachdem die Polizei zuletzt mit 50 000 Teilnehmer­n gerechnet hatte – und mit Gewalt. 2700 Polizisten und acht Wasserwerf­er waren im Einsatz. Eine Gegendemo der rechtspopu­listischen Partei »Pro Köln« nebst Nazi-, Hogesa- und Pegida-Anhang und eine linke Gegendemo von »Köln gegen rechts« hielten sich gegenseiti­g im Schach. Mit ihren paar Dutzend Teilnehmer­n hätten sie gegen die vielen Jünger Erdogan eh wenig ausrichten können. Stattdesse­n griff ein Nazi im Hauptbahnh­of einen Journalist­en ein. Sein Tag endete in einer Polizeizel­le.

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Foto: imago/Bettina Strenske Im Vorfeld war es um ein Verbot gegangen und um einen Videoauftr­itt des türkischen Präsidente­n, beide Vorhaben scheiterte­n – die Demonstran­ten huldigten in Köln dem Präsidente­n ohne eine Ansprache. Auch wegen weiterer Demonstrat­ionen befand sich die...

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