»Waffenstillstand wird die Lage beruhigen«
Álvaro Giraldo und Katherine Rendón über die Friedensverhandlungen in Havanna und die Realität in Kolumbien
Kolumbiens Regierung hofft, das endgültige Friedensabkommen mit den Revolutionären Bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens (FARC) in den kommenden Wochen unterzeichnen zu können. Ein bedeutender Schritt auf diesem Weg war die Einigung auf einen bilateralen Waffenstillstand und die geplante Entwaffnung der FARC im Juni. Mit welchen unmittelbaren Auswirkungen rechnen Sie? Álvaro Giraldo: Der Waffenstillstand mit der FARC wird die Sicherheitslage in ländlichen Gebieten beruhigen. Die Situation von BäuerInnen und AktivistInnen sozialer Bewegungen, die auf dem Land verfolgt, bedroht oder Opfer bewaffneter Kämpfe sind, wird sich hoffentlich verbessern. Man darf aber nicht vergessen, dass mit der nationalen Befreiungsarmee (ELN) eine Guerilla noch aktiv ist und es weiterhin zu Konfrontationen mit der Armee kommt. Sie arbeiten für das »Komitee für die Solidarität mit politischen Gefangenen« (CSPP). Was bedeutet das absehbare Friedensabkommen für die Situation der Menschen, die zivilen oder bewaffneten Widerstand leisteten und deswegen verhaftet wurden? herine Rendón Daniela Rivas Grajales. Kat- das Tragen von Abzeichen der Guerilla-Gruppen. Dagegen sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Amnestien ausgeschlossen. Katherine Rendón: Ich glaube, dass die politischen Gefangenen große Erwartungen gegenüber dem Friedensprozess haben. Sie denken, dass sie in kurzer Zeit, also sobald die Übergangsjustiz in Kraft tritt, freigesprochen werden. Aber wir bewegen uns auf einem unbekannten Feld und die Parameter der kolumbianischen Justiz werden sich deshalb verändern müssen. Beispielsweise gilt theoretisch der Grundsatz der Unschuldsvermutung, aber praktisch sehen wir bei den Inhaftierungen von MenschenrechtsaktivistInnen, dass die erste Antwort des Staates darin besteht, willkürlich Menschen ihrer Freiheit zu berauben. Das Verhalten der Institutionen entwickelt sich nicht parallel mit den Errungenschaften in den Friedensverhandlungen, sondern hinkt hinterher. Was meinen Sie damit? Álvaro: Obwohl die Regierung einen Dialog mit den Aufständischen führt, um den bewaffneten Konflikt zu beenden, greifen gerade staatliche Institutionen zu militärischen und repressiven Maßnahmen gegen den Sozialsektor, ländliche Gemeinden, Studentenbewegungen ... Dies ist weit entfernt von Frieden. Es ist zwar wichtig, ein Abkommen mit der Guerilla zu unterzeichnen, wir sehen aber, dass gerade ein autoritäres Modell Karriere macht, um den sozialen Konflikt im Zaum zu halten. Nun werden die Befugnisse der Polizei refor- miert. Dabei wird den PolizistInnen eine ungeheuerliche Macht eingeräumt. Soziale Proteste werden erschwert und unterdrückt. Das neue Gesetz kriminalisiert Straßenhändler und die Armen. Das geht in Richtung eines Polizeistaates. Ihre Organisation widmet sich seit 43 Jahre der Arbeit in Gefängnissen. Wie hat sich die Situation im Laufe der Jahre verändert? Katherine: Die Situation ist immer schlechter geworden. 2013 erklärte das Verfassungsgericht Kolumbiens den Zustand in den Gefängnissen für verfassungswidrig. Sie sprachen Klartext: Im Gefängnis verlieren die Insassen ihre Menschenwürde. Und die Situation der politischen Gefangenen verbessert sich auch nicht. Von der Untersuchung bis zur Verurteilung sind sie verschiedenen Formen von Stigmatisierung, Missbrauch und sogar Folter ausgesetzt. Die Situation der Gefängnisse ist heutzutage viel komplexer geworden. Wenn politische Gefangene streiken oder Anzeigen erstatten, werden sie Ziel von Vergeltungsaktionen seitens des Wachpersonals der Aufsichtsbehörde INPEC, und beispielsweise in Höfe verlegt, die unter der Kontrolle von Paramilitärs stehen. Oder sie werden in ein anderes Gefängnis abtransportiert. Das Verfassungsgericht Kolumbiens, aber auch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, reden von unzumutbaren Bedingungen in den Gefängnissen. Hervorgehoben wird besonders das Problem der Überbelegung, die in manchen Strafanstalten zwischen 60 bis 90 Prozent liegt ... Katherine: Die Überbelegung beweist die Ernsthaftigkeit der Lage. Wir besuchen Gefängnisse, in denen 14 Personen sich eine Zelle teilen, die für zwei oder vier Insassen gedacht ist. In manchen Höfen des Sicherheitsgefängnisses Villahermosa in Cali gibt es nur zwei Mal am Tag Zugang zu Trinkwasser. Was die Ernährung angeht, wurden Verträge an den Privatsektor vergeben, aber die Leistungen nicht erbracht. Es werden teils verrottete Nahrungsmittel verteilt, und die Portionen sind viel zu gering. In den Gefängnissen, die wir im Verwaltungsbezirk Valle del Cauca besuchen, gibt es keine Ärzte, nicht mal eine Ibuprofen-Schmerztablette. Die Situation ist so gravierend, dass viele Insassen es müde geworden sind, Anklagen zu erheben. Ein Teil der Krise besteht darin, dass wir über keine juristischen Mechanismen mehr verfügen, um die Einhaltung der Verträge zu erzwingen, und minimale Standards in Gefängnissen zu fordern.