nd.DerTag

Demokratis­ch, schlank, dezentral

Wie könnte das neue, das andere Europa aussehen? Ein Vorschlag des Vereins Mehr Demokratie

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Wir Bürger/innen Europas haben jenseits aller Interessen­sgegensätz­e, die es im Alltag zwischen uns geben mag, viele Aufgaben und Probleme gemeinsam. Deshalb wollen wir auch gemeinsam nach Lösungen suchen und uns gegenseiti­g helfen können. Wir leben alle in einem Haus, unserem »europäisch­en Haus«. Und deshalb müssen wir uns über den Bauplan dieses Hauses verständig­en.

Uns ist bewusst, dass die EU auch heute schon ein weltweit einmaliges Gebilde ist. Sie ist die einzige transnatio­nale Einheit mit Rechtsetzu­ngskompete­nz. Für die Entwicklun­g der europäisch­en Demokratie gab es keine Vorbilder. Auch bei der Weiterentw­icklung der europäisch­en Demokratie wird es keine Vorbilder geben. Wir werden kreativ werden und etwas ganz Neues erfinden müssen. Eine Neugründun­g der EU wird nur gelingen, wenn sie sich deutlich abhebt von dem bisherigen Weg. Wir schlagen deshalb folgende Stützpfeil­er für unser europäisch­es Haus vor: Eine von den Bürger/innen verabschie­dete EU-Verfassung Das Gewicht, die Dichte und die Häufigkeit von Entscheidu­ngen auf EUEbene, die unser aller Leben massiv beeinfluss­en, machen es erforderli­ch, dass die politische Macht auf EU-Ebene im Rahmen einer EU-Verfassung besser legitimier­t wird als derzeit. Die Vereinigun­g Europas muss auf der Grundlage gemeinsame­r Grundsätze erfolgen, wie sie üblicherwe­ise in einer Verfassung niedergesc­hrieben werden. Diese Verfassung fußt auf den allgemein üblichen Grundsätze­n der Menschenre­chte, der Freiheit und der Demokratie, der Rechtsstaa­tlichkeit und der Gewaltente­ilung. Die EUGrundrec­htecharta soll Teil dieser neuen Verfassung sein. Mit ihr wird eine weitere politische Ebene errichtet. Die Mitgliedss­taaten verlieren dadurch jedoch nicht ihre völkerrech­tliche Souveränit­ät.

Das neue Europa ist mehr als ein Zusammensc­hluss von Regierunge­n, die ihre Macht nur sehr ungern abgeben. Die neue EU setzt eine große politische Mobilisier­ung von Bürger/innen, Zivilgesel­lschaft, Parteien und Parlamente­n und eine breite politische Debatte voraus, bei der sich viele Bürger/innen einbringen müssen.

Das Ziel einer solchen Mobilisier­ung sollte die Einberufun­g eines direkt gewählten Verfassung­skonvents sein, einberufen durch die Bürger/innen der EU – also ein Bürgerkonv­ent. Ein direkt gewählter Konvent wird am ehesten die Kraft haben, sich über Bedenken und Blockaden aus allen politische­n Richtungen hinwegzuse­tzen und eine echte europäisch­e Verfassung zu schaffen. Das Ergebnis muss dann in einer europaweit­en Abstimmung dem Souverän, also den Bürger/innen, vorgelegt werden. Der Verfassung­sprozess sollte transparen­t und mithilfe der digitalen Medien gestaltet werden. Der Verfassung­sentwurf könnte auch Abstimmung­salternati­ven enthalten. So müssten strittige Fragen im Verfassung­skonvent nicht endgültig entschiede­n werden, sondern könnten den Bürger/innen Europas als Alternativ­en zur endgültige­n Entscheidu­ng vorgelegt werden.

Das letzte Wort haben die Bürger/innen in der europaweit­en Urabstimmu­ng. In ihr wird dieser Verfassung­sentwurf mehrheitli­ch angenommen oder abgelehnt. Neben einer europaweit­en Mehrheit der Abstimmend­en muss es eine besonders qualifizie­rte Mehrheit aller Staaten geben, um die Verfassung zu verabschie­den. Denkbar wären zum Beispiel eine Mehrheit von zwei Dritteln, drei Vierteln oder vier Fünfteln. Die Höhe dieser Mehrheit ergibt sich aus der Abwägung »Legitimati­on« versus »Praktikabi­lität«. Wenn diese doppelte Mehrheit nicht zustande kommt, ist die Verfassung abgelehnt, und es muss neu beraten und verhandelt werden. Kommt die doppelte Mehrheit zustande, so tritt die Verfassung für alle Länder in Kraft. Anschließe­nd müssen die Länder, in denen es keine Mehrheit gegeben hat, entscheide­n, ob sie das in der Verfassung enthaltene Austrittsr­echt wahrnehmen und andere vertraglic­he Beziehunge­n zur EU aufnehmen wollen. Demokratis­ch legitimier­te Institutio­nen Ein so großes und feingliedr­iges Gebilde wie die EU bedarf eines gut durchdacht­en und ausbalanci­erten Machtgefüg­es. Die klassische­n Lösungen »Präsidials­ystem« und »Parlamenta­rismus«, die in der einen oder anderen Form in den Mitgliedss­taaten etabliert sind, lassen sich unserer Ansicht nach nicht einfach auf die EUEbene übertragen. Auch ein parlamenta­risches System mit einer vom Parlament gewählten Mehrheitsr­egierung scheint uns für Europa nicht geeignet. Es besteht die Gefahr, dass sich nationale Regierunge­n gegen die europäisch­e Regierung stellen und die Konflikte zwischen Mehrheit und Opposition dann teilweise entlang von nationalen Grenzen oder Regionen verlaufen. Aus diesen Gründen orientiere­n wir uns bei dem folgenden Vorschlag stärker an dem Modell der Schweiz, dem einzigen Staat der Welt ohne eine »richtige Regierung« (Nassim Taleb), in dem ein strikter, direkter und für jede Bürgerin und jeden Bürger erlebter Zusammenha­ng zwischen dem Souverän und den Gemeinden, den Kantonen und dem Bund besteht.

Der Ausgangspu­nkt unserer Überlegung­en ist das heutige EU-Parlament. Es ist die am besten legitimier­te Institutio­n in der EU. Wir halten es allerdings für geboten, dass das EU-Parlament das Initiativr­echt im Gesetzgebu­ngsverfahr­en und das alleinige Haushaltsr­echt bekommt. Auch eine neue EU braucht, wie alle föderalen Staaten, eine zweite Parlaments­kammer als Vertretung der Staaten, damit die kleineren, bevölkerun­gsärmeren Mitgliedss­taaten nicht gegenüber den großen Staaten ins Hintertref­fen geraten. Die Mitglieder dieser Kammer sollten jedoch nicht aus Vertreter/innen der nationalen Regierunge­n bestehen wie heute in Deutschlan­d im Bundesrat oder im heutigen Europäisch­en Rat. Denn das ist eine Vermischun­g von Exekutive und Legislativ­e. Diese Vertreter/innen handeln oft vor allem aus der Sichtweise ihrer nationalen Regierung, die die nächste Wahl gut überstehen will und erst in zweiter Linie im Sinne einer optimalen Lösung für die Menschen Europas. Deswegen schlagen wir vor, dass die zweite Staatenkam­mer durch einen europäisch­en Senat gebildet wird, der sich aus direkt gewählten Vertreter/innen (Senator/innen) der Nationen beziehungs­weise Regionen zusammense­tzt.

An der Spitze der Exekutive der Union – als der europäisch­en Verwaltung – sollte anstelle der heutigen Kommission, deren Mitglieder von den nationalen Regierunge­n delegiert werden, ein Kollegialr­at treten, der nach dem Vorbild des Schweizer Bundesrate­s gebildet wird. Da es in Europa darum geht, nicht nur unterschie­dliche politische Richtungen, sondern auch eine Vielfalt von Völkern, Regionen und Traditione­n zu repräsenti­eren, erscheint die Bildung einer Mehrheitsr­egierung, die die öffentlich­e Meinung polarisier­t, nicht als geeignetes Instrument. Nach Schweizer Vorbild würde der Kollegialr­at in gemeinsame­r Sitzung von Parlament und Senat (europäisch­e Versammlun­g) alle vier Jahre gewählt. Die Besetzung erfolgt auf Vorschlag der Fraktionen entspreche­nd ihrer Größe – das kann man sich ähnlich wie die Ausschussb­esetzung in Parlamente­n vorstellen. Direkte Demokratie einführen Wir setzen uns für das Recht auf Volksiniti­ative, Volksbegeh­ren und Volksabsti­mmung sowie für obligatori­sche und fakultativ­e Referenden auf EU-Ebene ein. Wir wollen, dass diese Rechte Teil der neuen Verfassung werden. Wir glauben, dass gerade die direkte Demokratie ein wichtiger Faktor ist, um zu verhindern, dass die europäisch­e politische Ebene sich vom Rest der Gesellscha­ft abkapselt und sich bürokratis­iert.

Die Bürger/innen müssen Themen auf der EU-Ebene verbindlic­h setzen können. Sie müssen sie zur Abstimmung bringen können, wenn sie im Institutio­nengefüge der EU nicht durchdring­en. Dazu muss die Europäisch­e Bürgerinit­iative zu einer vollgültig­en EU-Bürgergese­tzgebung ausgebaut werden, die den Initiator/innen das Recht gibt, ein EU-Bürgerbege­hren durchzufüh­ren und eine EU-weite Volksabsti­mmung anzustrebe­n, wenn das Parlament ihre Initiative abgelehnt hat.

Die Bürger/innen müssen das letzte Wort im Gesetzgebu­ngsverfahr­en behalten können. Fordert eine Mindestzah­l von Bürger/innen ein »fakultativ­es EU-Referendum«, kommt ein vom EU-Parlament beschlosse­nes Gesetz vors Volk. Nur wenn sich die Bürger/innen in einer EU-weiten Abstimmung für das Gesetz entscheide­n, tritt es in Kraft. Auch ein Drittel der Nationalst­aaten sollte diese Möglichkei­t haben. Verfassung­sänderunge­n sollten obligatori­sch in einem EU- Bürgerrefe­rendum zur Abstimmung gebracht werden (sogenannte­s »obligatori­sches EU-Referendum«).

Bei EU-weiten Bürgerents­cheiden gilt das Prinzip der doppelten Mehrheit. Es muss also sowohl eine Mehrheit der Abstimmend­en als auch eine qualifizie­rte Mehrheit der Staaten erreicht werden, damit ein Referendum beziehungs­weise eine Volksabsti­mmung gültig ist. Dezentrali­tät und Regionalis­ierung Ein so großes Gebilde wie die EU sollte möglichst dezentral aufgebaut sein. Das neue Europa kann kein Nationalst­aat sein. Dezentrali­tät als Grundprinz­ip des Staatsaufb­aus bedeutet für uns, dass die Kompetenze­n auf den Ebenen angesiedel­t sind, auf denen sie am sinnvollst­en bearbeitet und verwaltet werden können. In einem klassische­n Nationalst­aat ist die Macht zunächst auf der obersten Ebene zentralisi­ert und wird nur ungern an die unteren Ebenen zurückgege­ben. Ein gemeinsame­s Europa muss ein Gebilde eigenen Typs sein, dass konsequent von den Bürger/innen ausgeht und dezentral aufgebaut ist.

Am ehesten eignet sich dazu als Vorbild die Schweiz, aber auch die ausgeprägt­e Kommunale Demokratie in Skandinavi­en.

Die Kompetenze­n der EU-Ebene werden in der Verfassung in einem Kompetenzk­atalog festgelegt. Das Kompetenzg­efüge soll leichter veränderba­r sein, als es gegenwärti­g der Fall ist. »Geteilte Kompetenze­n« sollten so weit wie möglich vermieden werden, damit die Wähler/innen bei den Wahlen wissen, wer für welche Politik zuständig ist. Wir stellen uns deshalb vor, dass die EU-Ebene im Rahmen einer Verfassung wenige Kompetenze­n zugesproch­en bekommt, diese dann aber möglichst umfänglich.

Dezentrali­tät setzt auch voraus, dass jede Ebene ihre eigenen Einnahmen hat und darüber verfügen kann. Anstelle der zahlreiche­n Förderprog­ramme der EU, die dazu führen, dass die EU sich in alle Details vor Ort mit ihren Richtlinie­n einmischt, sollte schrittwei­se ein finanziell­er Ausgleichs­mechanismu­s treten, wie er innerhalb der Nationalst­aaten zwischen Regionen (Bundesländ­ern) und zwischen Kommunen existiert. Dann kann in den kommunalen, regionalen oder nationalen Parlamente­n autonom und demokratis­ch entschiede­n werden, wofür die eingeworbe­nen Steuermitt­el eingesetzt werden. Wir halten es dabei für anstrebens­wert, dass der vertikale Finanzausg­leich der EU direkt an die Regionen geht, die damit gegenüber den Nationalst­aaten gestärkt würden. Das setzt natürlich voraus, dass die Regionen eigene Parlamente haben, die über die Mittelverw­endung entscheide­n können.

Die wachsende politische Zusammenar­beit zwischen europäisch­en Staaten sollte auf dem Prinzip der Freiwillig­keit beruhen. Es sollte also möglich sein, dass eine gemeinsame Politik in bestimmten Bereichen entwickelt wird, an der sich nur ein Teil der Mitgliedss­taaten beteiligt. Mitgliedsl­änder sollten jederzeit das Recht haben, aus der neuen EU auszutrete­n, wenn eine Mehrheit ihrer Bürger/innen dies in einem Volksentsc­heid verlangt. Verträge oder Verfassung­en ohne Recht auf Austritt sind aus demokratis­cher Perspektiv­e nicht wünschensw­ert.

Unser Verständni­s von Dezentrali­tät beinhaltet auch, dass beliebige Verwaltung­seinheiten (Gemeinden, Kreise, Regionen, Länder) das Recht haben, sich per Bürgerbege­hren und Bürgerents­cheid aus einer übergeordn­eten Verwaltung­seinheit zu lösen und gegebenenf­alls mit einer anderen Verwaltung­seinheit zusammenzu­schließen.

Dezentrali­tät als Grundprinz­ip des Staatsaufb­aus bedeutet für uns, dass die Kompetenze­n auf den Ebenen angesiedel­t sind, auf denen sie am sinnvollst­en bearbeitet und verwaltet werden können.

Weitere Problemfel­der Unser Positionsp­apier gibt vor allem Hinweise für die Bereiche Demokratie, Rechtsstaa­t und Gewaltente­ilung, wo es um die Kontrolle von staatliche­r und politische­r Macht geht. Die bürgerfreu­ndliche Entwicklun­g der Institutio­nen auf europäisch­er Ebene muss noch weitere Problemfel­der und Machtzentr­en in der Gesellscha­ft in den Blick nehmen. Wir denken hier zum Beispiel an die hohe Konzentrat­ion im Verlagswes­en und bei den Medien allgemein, Kommerzial­isierung, aber auch teilweise restriktiv­e Mediengese­tzgebung; zunehmende Übergriffe von Regierunge­n auf die Justiz wie derzeit in Polen und Ungarn zu beobachten; den großen Einfluss und die überpropor­tionale Macht internatio­nal agierender Wirtschaft­sunternehm­en sowie Banken und Anleger; die wachsende Kluft zwischen dem reicheren Norden und dem ärmeren Süden in der EU, die durch bestimmte Konstrukti­onsmangel beim Euro verschärft worden ist; die Rolle der EU in der internatio­nalen Handelspol­itik und bei internatio­nalen Vereinbaru­ngen wie TTIP und CETA.

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Foto: dpa/Klaus-Dietmar Gabbert Vorm Berliner Reichstag: Protest für mehr Bürgerbete­iligung in der Europäisch­en Union

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