Die verhinderte Großstadt
Singer-Nähmaschinenwerke machten kleine Orte zu Metropolen – nur Wittenberge nicht
Wittenberge verlor nach der Wende 6500 Industriearbeitsplätze und hat sich von diesem Schlag nie wieder so richtig erholen können.
Hätte es die Wende nicht gegeben, dann hätten Sigrid Wuttke und ihr Mann Lothar bis zur Rente im VEB Nähmaschinenwerk Wittenberge gearbeitet. Sie als Chefin des Lohnbüros, er als Klubhausleiter. Da sind sie sich sicher. Womöglich hätten auch die Kinder im Betrieb angefangen.
Doch der ehemals volkseigene Betrieb ging Pleite wie unzählige andere auch. Am 31. Januar 1992 erhielten alle bis dahin noch übriggebliebenen Beschäftigten die Kündigung. 3200 Mitarbeiter hatten in der DDR pro Jahr 430 000 Nähmaschinen hergestellt. 40 Prozent der Produktion ging ins westliche Ausland, weitere 20 Prozent in die Sowjetunion und in andere Ostblockstaaten. Zwar verfügte die Sowjetunion in Podolsk über ein eigenes Nähmaschinenwerk, das aber selbst mit einer gigantischen Stückzahl von 1,4 Millionen im Jahr den heimischen Bedarf nicht decken konnte.
Die Wittenberger Nähmaschinen der Marke »Veritas« waren begehrt in der DDR, wo sie 1400 Mark kosteten, und verkauften sich auch gut in der Bundesrepublik, wo der Otto-Versand die Nähmaschinen für 300 Westmark offerierte. Doch nach der Wende, den Eindrück hat Lothar Wuttke, »sollte die Bude dicht gemacht werden um jeden Preis«. Konzepte für die Rettung hätten dabei überhaupt nicht interessiert. Der Betrieb fiel gewissenlosen Betrügern zum Opfer, denen die Treuhandanstalt keinen Einhalt gebot.
Die Wuttkes mussten sich nach neuen Jobs umsehen. Sigrid fand zunächst eine Anstellung bei einer Bankfiliale in Wittenberge und wurde dann nach Berlin versetzt. So zog die Familie in die Hauptstadt, wo das Ehepaar bis heute in einer stilvoll eingerichteten Plattenbauwohnung in einem Hochhaus in Berlin-Kaulsdorf lebt. Viele Kollegen zerstreuten sich auf der Suche nach Arbeit in alle Winde. Doch die Wuttkes und acht bis zehn andere Nähmaschinenwerker blieben in Verbindung. Im Laufe der Jahre 2005 bis 2014 haben diese Leute zehn aufschlussreiche Bücher mit vielen Fotos zur Geschichte des Nähmaschinenwerks herausgebracht. Das Spektrum der Themen reicht von der Investition des US-Konzerns Singer bis zum bitteren Ende, der Liquidation. Einige Mitstreiter treffen sich immer noch ab und zu, aber die Buchreihe ist abgeschlossen. »Wir wollen uns mehr um unsere Enkel kümmern«, erklärt Lothar Wuttke.
An einem Werktag sind auf den Straßen in Wittenberge in der drückenden Mittagshitze nur sehr weni- ge Fußgänger unterwegs. Die viele Jahre vernachlässigte Gegend in Bahnhofsnähe ist inzwischen restauriert, wirkt aber wie ausgestorben. Es gibt noch ein paar Ruinen, aber auch sanierte Altbauten und anstelle des gründerzeitlichen Packhofviertels moderne, schmucke Eigenheime.
Um 1800 zählte Wittenberge lediglich 850 Einwohner, 1873 dann 7000 und 1921 mehr als 26 000. Die Industrialisierung begann, so verrät eine Hinweistafel, mit der Verlegung des Hauptzollamtes von Lenzen nach Wittenberge im Jahr 1819 und mit der Durchstechung des Hammelwerders für die Floßschifffahrt 1820. Und sie gewann an Tempo mit dem Bau des Hafens 1832 bis 1835, dem Anschluss an die Bahnstrecke BerlinHamburg 1846 und der Errichtung der ersten Brücke über die Elbe 1846 bis 1851. Demnach entstanden unter anderem die Seifenfabrik der Gebrüder Tesmer, die Tuchfabrik der Familie Nayler, und die Berlin-Hamburger Eisenbahngesellschaft eröffnete 1876 ihre Zentralwerkstatt in Wittenberge.
Das ganz große Ding kam aber erst noch. Die Singer AG kaufte für 32 000 Mark 4,76 Hektar Land. 1903 begann dort der Bau einer Nähmaschinenfabrik, die am 1. Mai 1904 offiziell eingeweiht wurde. Am 1. Juli desselben Jahres lief die Montage an, in der Folgezeit wurde das Werk noch immer weiter ausgebaut. So entstand 1928 der markante Wasserturm mit der riesigen Uhr, die mit 7,57 Metern Durchmesser des Ziffernblattes und ihrem 3,30 Meter langen Minutenzeiger 1995 ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen wurde.
Der Mechaniker und Wanderschauspieler Isaac Merritt Singer (1811-1875) hatte die bis dahin bekannten Nähmaschinen technisch verbessert und die »Singer No. 1« zum Patent angemeldet. Damit wurde er reich, erlebte den weltweiten Siegeszug seines Konzerns aber nicht mehr. Alle Kleinstädte, in denen sich die Singer AG ansiedelte, entwickelten sich zu Großstädten. Aber in Wittenberge kamen zwei Weltkriege und die deutsche Teilung dazwischen. Doch obwohl Wittenberge die Marke von 100 000 Einwohnern nicht knacken konnte: Die Stadt erholte sich und wuchs bis in die 1980er Jahre hinein, als im Norden das letzte Plattenbaugebiet aus dem Boden gestampft wurde. Es ist inzwischen dem Erdboden gleichgemacht, um den Wohnungsleerstand einzudämmen.
Insgesamt 14 Millionen Nähmaschinen sind in all den Jahren vom Band gelaufen. Frühe Modelle und viele spätere Typen sind heute im Uhrenturm an der Wilsnacker Straße 48 ausgestellt und von Mai bis September, dienstags bis sonntags von 10 bis 16 Uhr, zu besichtigen. Der Eintritt kostet zwei Euro. Der Besuch lohnt sich auch deswegen, weil der Ausblick von oben herrlich ist.
Ausgenommen die Sonderausstellung über Leben und Werk von Isaac Singer deprimiert die durchaus sehenswerte Außenstelle des Stadtmuseums im Uhrenturm. Nicht so sehr, weil etliche Fotos schon vergilbt sind, sondern vielmehr, weil die Fotos Szenen zeigen, die es heute leider nicht mehr gibt: Menschenmassen, die zum Schichtwechsel das Werkstor passieren. Genau dort ist mittlerweile das Oberstufenzentrum Prignitz untergebracht.
Gerade schlurfen drei Lehrlinge träge aus dem schattigen Eingangsbereich in die pralle Sonne. Auch am Eingang zum Veritas-Gewerbepark ist nicht viel los. Das Ehepaar aus der Kundendienstabteilung, das immer noch mit Ersatzteilen für Veritas-Maschinen handelt, hat bereits am Vormittag Feierabend gemacht. Nur selten kurvt ein Laster oder ein Kleintransporter um den Uhrenturm, obwohl hier immerhin mehr als 40 Firmen mit zusammen etwa 500 Mitarbeitern ansässig sind.
Nach der Wende verlor Wittenberge fast auf einen Schlag 6500 Arbeitsplätze in der Industrie. Noch vor dem Nähmaschinenwerk brach gleich 1990 der ungefähr gleich große VEB Zellstoff und Zellwolle zusammen. Dieser 1937 gegründete Betrieb, in dem in den Kriegsjahren 80 Prozent der Belegschaft Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge waren, hatte in der DDR beispielsweise Zellophan, eine Vorgängervariante der Frischhaltefolie, hergestellt. Auch die Ölmühle, heute als Hotel und Veranstaltungsort der Elblandfestspiele genutzt, ging damals bankrott. Die Stadt verlor ihre »wirtschaftliche Grundlage« und seitdem Tausende Einwohner, informiert eine Hinweistafel. Es waren längst nicht nur Sigrid und Lothar Wuttke, die schweren Herzens wegziehen mussten.