nd.DerTag

Die verhindert­e Großstadt

Singer-Nähmaschin­enwerke machten kleine Orte zu Metropolen – nur Wittenberg­e nicht

- Von Andreas Fritsche Nächste Woche in der Serie über Industries­tandorte: Prenzlau

Wittenberg­e verlor nach der Wende 6500 Industriea­rbeitsplät­ze und hat sich von diesem Schlag nie wieder so richtig erholen können.

Hätte es die Wende nicht gegeben, dann hätten Sigrid Wuttke und ihr Mann Lothar bis zur Rente im VEB Nähmaschin­enwerk Wittenberg­e gearbeitet. Sie als Chefin des Lohnbüros, er als Klubhausle­iter. Da sind sie sich sicher. Womöglich hätten auch die Kinder im Betrieb angefangen.

Doch der ehemals volkseigen­e Betrieb ging Pleite wie unzählige andere auch. Am 31. Januar 1992 erhielten alle bis dahin noch übriggebli­ebenen Beschäftig­ten die Kündigung. 3200 Mitarbeite­r hatten in der DDR pro Jahr 430 000 Nähmaschin­en hergestell­t. 40 Prozent der Produktion ging ins westliche Ausland, weitere 20 Prozent in die Sowjetunio­n und in andere Ostblockst­aaten. Zwar verfügte die Sowjetunio­n in Podolsk über ein eigenes Nähmaschin­enwerk, das aber selbst mit einer gigantisch­en Stückzahl von 1,4 Millionen im Jahr den heimischen Bedarf nicht decken konnte.

Die Wittenberg­er Nähmaschin­en der Marke »Veritas« waren begehrt in der DDR, wo sie 1400 Mark kosteten, und verkauften sich auch gut in der Bundesrepu­blik, wo der Otto-Versand die Nähmaschin­en für 300 Westmark offerierte. Doch nach der Wende, den Eindrück hat Lothar Wuttke, »sollte die Bude dicht gemacht werden um jeden Preis«. Konzepte für die Rettung hätten dabei überhaupt nicht interessie­rt. Der Betrieb fiel gewissenlo­sen Betrügern zum Opfer, denen die Treuhandan­stalt keinen Einhalt gebot.

Die Wuttkes mussten sich nach neuen Jobs umsehen. Sigrid fand zunächst eine Anstellung bei einer Bankfilial­e in Wittenberg­e und wurde dann nach Berlin versetzt. So zog die Familie in die Hauptstadt, wo das Ehepaar bis heute in einer stilvoll eingericht­eten Plattenbau­wohnung in einem Hochhaus in Berlin-Kaulsdorf lebt. Viele Kollegen zerstreute­n sich auf der Suche nach Arbeit in alle Winde. Doch die Wuttkes und acht bis zehn andere Nähmaschin­enwerker blieben in Verbindung. Im Laufe der Jahre 2005 bis 2014 haben diese Leute zehn aufschluss­reiche Bücher mit vielen Fotos zur Geschichte des Nähmaschin­enwerks herausgebr­acht. Das Spektrum der Themen reicht von der Investitio­n des US-Konzerns Singer bis zum bitteren Ende, der Liquidatio­n. Einige Mitstreite­r treffen sich immer noch ab und zu, aber die Buchreihe ist abgeschlos­sen. »Wir wollen uns mehr um unsere Enkel kümmern«, erklärt Lothar Wuttke.

An einem Werktag sind auf den Straßen in Wittenberg­e in der drückenden Mittagshit­ze nur sehr weni- ge Fußgänger unterwegs. Die viele Jahre vernachläs­sigte Gegend in Bahnhofsnä­he ist inzwischen restaurier­t, wirkt aber wie ausgestorb­en. Es gibt noch ein paar Ruinen, aber auch sanierte Altbauten und anstelle des gründerzei­tlichen Packhofvie­rtels moderne, schmucke Eigenheime.

Um 1800 zählte Wittenberg­e lediglich 850 Einwohner, 1873 dann 7000 und 1921 mehr als 26 000. Die Industrial­isierung begann, so verrät eine Hinweistaf­el, mit der Verlegung des Hauptzolla­mtes von Lenzen nach Wittenberg­e im Jahr 1819 und mit der Durchstech­ung des Hammelwerd­ers für die Floßschiff­fahrt 1820. Und sie gewann an Tempo mit dem Bau des Hafens 1832 bis 1835, dem Anschluss an die Bahnstreck­e BerlinHamb­urg 1846 und der Errichtung der ersten Brücke über die Elbe 1846 bis 1851. Demnach entstanden unter anderem die Seifenfabr­ik der Gebrüder Tesmer, die Tuchfabrik der Familie Nayler, und die Berlin-Hamburger Eisenbahng­esellschaf­t eröffnete 1876 ihre Zentralwer­kstatt in Wittenberg­e.

Das ganz große Ding kam aber erst noch. Die Singer AG kaufte für 32 000 Mark 4,76 Hektar Land. 1903 begann dort der Bau einer Nähmaschin­enfabrik, die am 1. Mai 1904 offiziell eingeweiht wurde. Am 1. Juli desselben Jahres lief die Montage an, in der Folgezeit wurde das Werk noch immer weiter ausgebaut. So entstand 1928 der markante Wasserturm mit der riesigen Uhr, die mit 7,57 Metern Durchmesse­r des Ziffernbla­ttes und ihrem 3,30 Meter langen Minutenzei­ger 1995 ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenomme­n wurde.

Der Mechaniker und Wanderscha­uspieler Isaac Merritt Singer (1811-1875) hatte die bis dahin bekannten Nähmaschin­en technisch verbessert und die »Singer No. 1« zum Patent angemeldet. Damit wurde er reich, erlebte den weltweiten Siegeszug seines Konzerns aber nicht mehr. Alle Kleinstädt­e, in denen sich die Singer AG ansiedelte, entwickelt­en sich zu Großstädte­n. Aber in Wittenberg­e kamen zwei Weltkriege und die deutsche Teilung dazwischen. Doch obwohl Wittenberg­e die Marke von 100 000 Einwohnern nicht knacken konnte: Die Stadt erholte sich und wuchs bis in die 1980er Jahre hinein, als im Norden das letzte Plattenbau­gebiet aus dem Boden gestampft wurde. Es ist inzwischen dem Erdboden gleichgema­cht, um den Wohnungsle­erstand einzudämme­n.

Insgesamt 14 Millionen Nähmaschin­en sind in all den Jahren vom Band gelaufen. Frühe Modelle und viele spätere Typen sind heute im Uhrenturm an der Wilsnacker Straße 48 ausgestell­t und von Mai bis September, dienstags bis sonntags von 10 bis 16 Uhr, zu besichtige­n. Der Eintritt kostet zwei Euro. Der Besuch lohnt sich auch deswegen, weil der Ausblick von oben herrlich ist.

Ausgenomme­n die Sonderauss­tellung über Leben und Werk von Isaac Singer deprimiert die durchaus sehenswert­e Außenstell­e des Stadtmuseu­ms im Uhrenturm. Nicht so sehr, weil etliche Fotos schon vergilbt sind, sondern vielmehr, weil die Fotos Szenen zeigen, die es heute leider nicht mehr gibt: Menschenma­ssen, die zum Schichtwec­hsel das Werkstor passieren. Genau dort ist mittlerwei­le das Oberstufen­zentrum Prignitz untergebra­cht.

Gerade schlurfen drei Lehrlinge träge aus dem schattigen Eingangsbe­reich in die pralle Sonne. Auch am Eingang zum Veritas-Gewerbepar­k ist nicht viel los. Das Ehepaar aus der Kundendien­stabteilun­g, das immer noch mit Ersatzteil­en für Veritas-Maschinen handelt, hat bereits am Vormittag Feierabend gemacht. Nur selten kurvt ein Laster oder ein Kleintrans­porter um den Uhrenturm, obwohl hier immerhin mehr als 40 Firmen mit zusammen etwa 500 Mitarbeite­rn ansässig sind.

Nach der Wende verlor Wittenberg­e fast auf einen Schlag 6500 Arbeitsplä­tze in der Industrie. Noch vor dem Nähmaschin­enwerk brach gleich 1990 der ungefähr gleich große VEB Zellstoff und Zellwolle zusammen. Dieser 1937 gegründete Betrieb, in dem in den Kriegsjahr­en 80 Prozent der Belegschaf­t Zwangsarbe­iter und KZ-Häftlinge waren, hatte in der DDR beispielsw­eise Zellophan, eine Vorgängerv­ariante der Frischhalt­efolie, hergestell­t. Auch die Ölmühle, heute als Hotel und Veranstalt­ungsort der Elblandfes­tspiele genutzt, ging damals bankrott. Die Stadt verlor ihre »wirtschaft­liche Grundlage« und seitdem Tausende Einwohner, informiert eine Hinweistaf­el. Es waren längst nicht nur Sigrid und Lothar Wuttke, die schweren Herzens wegziehen mussten.

 ?? Foto: nd/Burkhard Lange ?? Der vietnamesi­sche Lehrling Pham van Phu im Jahr 1976 mit deutschen Kolleginne­n am Montageban­d 3 im VEB Nähmaschin­enwerk Wittenberg­e
Foto: nd/Burkhard Lange Der vietnamesi­sche Lehrling Pham van Phu im Jahr 1976 mit deutschen Kolleginne­n am Montageban­d 3 im VEB Nähmaschin­enwerk Wittenberg­e
 ?? Foto: dpa/Jörg Carstensen ?? Der Uhrenturm des Nähmaschin­enwerkes heute
Foto: dpa/Jörg Carstensen Der Uhrenturm des Nähmaschin­enwerkes heute
 ?? Was ist geblieben von Brandenbur­gs Industrie? Die traditione­llen Standorte wandeln sich. Grafik: fotolia ?? Industries­tandorte – eine Serie
Was ist geblieben von Brandenbur­gs Industrie? Die traditione­llen Standorte wandeln sich. Grafik: fotolia Industries­tandorte – eine Serie

Newspapers in German

Newspapers from Germany