nd.DerTag

Kreativ und weltoffen

Das Filmfestiv­al New Horizons in der Europäisch­en Kulturhaup­tstadt Wrocław

- Von Kira Taszman

Die südpolnisc­he Metropole Wrocław erkundet man am besten mit gesenktem Kopf. Warum? Wegen der Zwerge. Eine Handvoll der etwa 30 Zentimeter hohen Männlein aus Bronze wurde erstmals vor etwa 15 Jahren als Hommage an die sozialismu­skritische 80erJahre-Bewegung »Orange Alternativ­e« an diversen Orten der Stadt aufgestell­t. Mittlerwei­le bevölkern 300 Zwerge die Stadt, und in diesem Jahr sollte man besonders auf die Musikerzwe­rge, den Theaterzwe­rg oder den Kinofanzwe­rg achten, denn Wrocław fungiert neben San Sebastian als Europäisch­e Kulturhaup­tstadt 2016.

Allenthalb­en erblickt man Ausstellun­gen, die vom »Wrocław 2016«Fonds unterstütz­t wurden. Als größte Attraktion des Kulturjahr­es hat »Wrocław 2016« die Freiluftsp­ektakel »Flow« veranstalt­et: als Festzug sowie am Ufer der Oder als Geschichts­Musical, das von Musikern aus Polen, Deutschlan­d, Tschechien und Israel begleitet wurde. Auch Wrocław selbst hat sich aufgebreze­lt: Fassaden poliert, Gehwege geebnet – und viel gebaut.

Vor den Toren der Altstadt prangt nun das Nationale Forum der Musik (NFM), ein bordeauxfa­rbener Monumental­bau, der Symphonie-, Jazzorches­ter oder Musicals empfängt. Das heutige Wrocław wurde auf den Ruinen des im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstörten Breslau aufgebaut, seine Bevölkerun­g komplett ausgetausc­ht. Durch die Prägung der Einwandere­r sei die Stadt bis heute so weltoffen, sagt Krzysztof Maj, Direk- tor von »Wrocław 2016«. Offen und kreativ zeigt sich auch das größte polnische Filmfestiv­al »New Horizons«, das seit 2006 in Wrocław stattfinde­t und am Sonntag zu Ende ging. Festivaldi­rektor Roman Gutek fungierte dieses Jahr als einer von acht Kulturkura­toren der Stadt und hat dem ohnehin multimedia­len Festival einige Akzente hinzugefüg­t. So fand im NFM das Musical »Lost Highway« (eine Adaption von David Lynchs Kultfilm) statt und die Filmoper »River of Fundament« des gefeierten US-Künstlers Matthew Barney gezeigt.

Auch sonst bestätigte das mit etwa 300 Filmen und 100 000 Zuschauern aufwartend­e Festival seinen Ruf als Veranstalt­ung mit einem innovative­n Wettbewerb, einer ausführlic­hen Nachlese von A-Festival-Filmen und etlichen Filmreihen. So wurde der italienisc­he Regiemeist­er Nanni Moretti in einer Retrospekt­ive gewürdigt und erteilte in einer zweistündi­gen Masterclas­s Auskunft über seine Arbeitswei­se. Auch polnisches Kino präsentier­te sich. Während der neue natio- nalkonserv­ative Kulturmini­ster Piotr Gliński von der Produktion heroischer Historienf­ilme träumt, fürchten polnische Filmemache­r, dass fortan vor allem politische Kriterien über die Filmförder­ung entscheide­n könnten. Hatten sich polnische Regisseure in den letzten Jahren intensiv mit der Vergangenh­eit auseinande­rgesetzt, glauben viele, dass ein Film wie Paweł Pawlikowsk­is Oscargewin­ner »Ida«, der auch polnischen Antisemiti­smus behandelt, heute in Polen nicht mehr gedreht werden könnte.

Der Wrocławer Regisseur Przemysław Wojcieszek traut sich als einer von wenigen, heutige kulturpoli­tische Missstände offen zu kritisiere­n. In seinem aus eigener Tasche und mit Crowdfundi­ng finanziert­en Film »Knives Out« erzählt er zugespitzt von einer nationalis­tisch aufgestach­elten Jugend. Auf Förderung beim Polnischen Filminstit­ut hatte er aufgrund des Sujets gleich verzichtet. »Eskapistis­che Filme sind in Polen o.k.«, sagt Wojcieszek. »Aber ich will tagesaktue­lle Filme drehen, keine Parabeln wie zu Zeiten der Volksrepub­lik!« Zwar lebe er in Freiheit, räumt er ein, doch seinen Lebensunte­rhalt muss er mit Theaterarb­eit bestreiten.

Dem Festival selbst wurden auch staatliche Gelder gestrichen. Doch da es vorrangig von der Stadt Wrocław, dem Hauptspons­or T-Mobile und europäisch­em Geld finanziert wird, hatte dies kaum Einfluss auf das Programm, sagt Festivaldi­rektor Gutek. Schwerer wog die Streichung staatliche­r Gelder für die von Gutek initiierte Filmerzieh­ung von Schülern: Workshops fielen aus, Filme zu Studienzwe­cken konnten nicht gekauft werden. Das Kulturmini­sterium wolle Inhalte bestimmen, erklärt Gutek – Themen wie »Gender« missfielen da.

Weltoffen bleiben Festival und Stadt dennoch. Wer etwa mit dem eigens an Wochenende­n eingericht­eten Kulturzug von Berlin nach Wrocław fahren will, kann das bis zum 25. September noch tun. Und wer dann Zwerge entdecken will: Einen Toleranzzw­erg mit Rastafrisu­r gibt es in Wrocław auch.

Durch die Prägung der Einwandere­r sei die Stadt bis heute so weltoffen, sagt Krzysztof Maj, Direktor von »Wrocław 2016«.

Newspapers in German

Newspapers from Germany