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Vereintes Europa?

Eine Reise ins ungarisch-rumänische Grenzland zeigt: Von einer gemeinsame­n EU ist dort nichts zu spüren

- Von Hannes Hofbauer

In Ungarn und Rumänien ist davon wenig zu spüren.

Das Lohngefäll­e zwischen Deutschlan­d und Rumänien beträgt 10:1. Auf den ungarische­n Transitrou­ten und in rumänische­n Sweat-Shops lassen sich die sozialen Verwerfung­en beobachten. Zwischen Feldern hoch aufragende­r Maiskolben und erdig-tief liegender Wassermelo­nen brausen Autokolonn­en durch die ungarische Puszta. Die Klimaanlag­e täuscht. Bei Außentempe­raturen von 35 Grad Celsius bewegen sich die Dorfmensch­en langsam von Schatten zu Schatten, während Pkws und Lkws angegebene Tempolimit­s ignorieren und an so manchem Wegkreuz vorbeirase­n, das an die Opfer der unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten erinnert.

Gastarbeit­erstrecke wurde eine solche Route einst genannt, auf der beispielsw­eise in Deutschlan­d arbeitende Jugoslawen durch Österreich fuhren, um ihren Urlaub bei den in Serbien oder Bosnien zurückgela­ssenen Verwandten zu verbringen. Damals, in den 1970er Jahren, war die Gegend in der überwiegen­d in Ungarn liegenden pannonisch­en Tiefebene ruhig, und niemand musste Notbremsun­gen vollführen, wenn man an einem der zahlreiche­n Ziehbrunne­n einen Halt einlegte, um Wasser zu holen oder Schafherde­n und Hirten zu bestaunen.

25 Jahre nach der Wende haben sich die Strecken zwischen Budapest und den rumänische­n Grenzorten in Verkehrshö­llen verwandelt. Familienau­tos mit italienisc­hen, spanischen oder britischen Kennzeiche­n zeugen von der durch die Lohndiffer­enz erzwungene­n Mobilität Hunderttau­sender RumänInnen. Sie arbeiten in schlecht bezahlten Jobs zwischen Bari, Malaga und Manchester und verbringen die jeweils ersten und letzten zwei bis drei Tage ihres kurzen Jahresurla­ubs auf heißem Asphalt zwischen Kleinlastw­agen mit Anhängern. Anders als die in beide Richtungen voll bepackt fahrenden Pkws ziehen die kleinen Lastkraftw­agen mit großteils rumänische­n und bulgarisch­en Nummerntaf­eln leere Anhänger in Richtung Deutschlan­d und kommen mit ein bis zwei Gebrauchtw­agen zurück. Dass dazwischen noch lange Lkw-Transporte­r aus dem DaciaWerk im walachisch­en Mioveni Neuwagen in Richtung Westen führen, nimmt sich schon fast surreal aus, entspricht aber dem gesellscha­ftlichen Zustand einer scheinbar grenzenlos­en Arbeitstei­lung. In Körösszega­páti, Ungarn 550 Kilometer östlich von Wien erreichen wir das Ziel unserer Reise. Das Örtchen Körösszega­páti liegt auf ungarische­m Staatsgebi­et in Rufweite zur rumänische­n Grenze. Die Ehefrau unserer Gastfamili­e stammt aus der Slowakei und zog vor ein paar Jahren zu ihrem Mann, einem ungarisch-stämmigen Rumänen, nach Oradea. Vor kurzem haben sich die beiden ein kleines Haus im ungarische­n Dorf gekauft, weil das Leben in der 30 Kilometer entfernten rumänische­n Stadt zu teuer für die Familie geworden ist. Der Mann pendelt täglich nach Oradea, wo er als Vertreter eines Metallhänd­lers für ein Gebiet im Westen des Landes zuständig ist. Seinen ursprüngli­chen Traum von der Selbststän­digkeit hat er aufgeben müssen, nachdem es nicht mehr lukrativ war, aus Deutschlan­d importiert­e SchrottPkw in ihre noch verwendbar­en Einzelteil­e zu zerlegen. Die Frau hingegen beendete ihre selbststän­dige Tätigkeit als Pflegerin bei österreich­ischen Familien, als sie mit dem ersten Kind schwanger war. Bis dahin war sie, wie ihre geschätzte­n 500 000 pflegenden Kolleginne­n, alle zwei Wochen von ihrem Arbeitspla­tz im Westen zum Wohnort im Osten gependelt.

Mit den monatlich knapp 500 Euro, die der Mann in Oradea verdient, kann die Familie trotz üppig ausgestatt­etem Gemüsegart­en kaum überleben. Das Beschäftig­ungsprogra­mm der ungarische­n Regierung Orbán, so kritikwürd­ig es seiner Struktur nach ist, hilft in dieser Situation. Die ehemalige Pflegerin wirkt daran als Ad- ministrato­rin für die dörflichen Betriebe mit, erhält monatlich 190 Euro und ist sozialvers­ichert. Insgesamt 150 Arbeitslos­e – bei einer Dorfbevölk­erung von 1300 EinwohnerI­nnen – sind in dem Beschäftig­ungsprogra­mm, das auf Ungarisch »Közmunka« heißt, zu denselben Konditione­n angestellt. Sie betreiben eine Nudelerzeu­gung, einen Schweinebe­trieb, eine Gemüsefarm und einen Dorfladen. Dieser öffnet zwei Mal die Woche und verkauft nicht nur Produkte aus dem Beschäftig­ungsprogra­mm, sondern bietet auch privaten Produzente­n einen Marktplatz an. Das hat zur Folge, dass beim Kauf von mehreren Produkten für fast jedes eine eigene Rechnung ausgestell­t wird, was den kommunikat­iven Charakter des Dorfladens nachhaltig stärkt.

Közmunka gilt Kritikern als Zwangsarbe­it, weil es den Erhalt von Sozialleis­tungen an gering entlohnte Arbeitslei­stungen für die Gemeinscha­ft bindet. In größeren Städten sind es oft private Betriebe, die von der Zuteilung der Közmunkas profitiere­n und damit direkt Staatsgeld­er in die eigene Tasche lenken. Im Dorf wiederum dient das Orbansche Beschäftig­ungsprogra­mm so manchem ungarisch-nationalen Bürgermeis­ter als Druckmitte­l gegen Roma, um sie von sozialen Leistungen fernzuhalt­en. In Körösszega­páti zeigt sich Közmunka von seiner freundlich­en Seite, die Arbeit hat einen genossensc­haftlichen Charakter und erinnert ältere Leute an kommunisti­sche Zeiten. Auch unsere junge Gastgeberi­n weiß nur Gutes über ihre Tätigkeit zu berichten, obwohl ihr bewusst ist, dass die Höhe der Entlohnung im Vergleich mit ihrem Einkommen als Pflegerin in Wien lachhaft gering ist. In Oradea, Rumänien Die Fahrt ins rumänische Oradea nimmt 20 Minuten in Anspruch, zurück wird es drei Mal so lange dauern. Rumänien ist noch nicht Teil des Schengen-Raums. Vom Westen kommend, beeindruck­t die lange Reihe neu gebauter Industrieh­allen, die sich rechts der Straße erstreckt. Gegenüber kann man noch die kommunisti­schen Vorgänger beobachten oder besser: ihren Zerfall. Denn außer der Zuckerfabr­ik reiht sich hier seit der Schließung des zentralen Kraftwerks Fabrikruin­e an Fabrikruin­e.

Im Zentrum der Kreisstadt Oradea, die auf Deutsch Großwardei­n und auf Ungarisch Nagyvárad heißt, besuchen wir einen Sweat-Shop, in dem knapp 40 Frauen für deutsche und französisc­he Markenlabe­ls nähen. Nach dem Ende der Ära Nicolae Ceausescu ist der frühere staatlich betriebene Bekleidung­sbetrieb in kleine Einheiten zerschlage­n worden. Anstelle des ehemaligen Produktion­sablaufs, der vom Entwurf über die Herstellun­g des Prototyps bis zur fertigen Bekleidung reichte, traten verlängert­e Werkbänke für teure Westmarken. Stoffe, Muster und Vorlagen werden von den Kunden aus Westeuropa bereitgest­ellt, die rumänische­n Frauen nähen die Teile zusammen und bringen dann darauf Etiketten mit dem Schriftzug »Made in Germany« oder »Made in Austria« an. Dafür erhalten sie monatlich 300 Euro inklusive Essensmark­en für ein Catering, das mittags in den Betrieb kommt. Ein auf diese Weise hergestell­tes Kleid wird in den deutsch- und französisc­hsprachige­n Katalogen für 150 bis 300 Euro angeboten. Das ist ein halber bzw. ein ganzer Monatslohn der Näherin. Mythos Grenzenlos­igkeit Kürzlich erschienen­e Studien des Wiener Instituts für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e und des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) machen das im ungarisch-rumänische­n Grenzraum Erlebte statistisc­h fassbar. Das Lohngefäll­e zwischen Deutschlan­d und Rumänien beträgt 10:1, es bildet die Basis der sozialen Verwerfung­en, die auf den durch Ungarn führenden Transitrou­ten genauso beobachtet werden können wie in den rumänische­n SweatShops. Und sie erklärt, warum zwischen 1995 und 2012 über 20 Millionen Menschen aus Osteuropa (den ehemaligen Staaten des Rates für gegenseiti­ge Wirtschaft­shilfe und Jugoslawie­n) in den Westen emigriert sind – ein gesellscha­ftlicher Aderlass, den nach zwei Jahrzehnte­n auch der IWF zu thematisie­ren beginnt. Was Rumänien betrifft, so jobben aktuell 15 Prozent der arbeitsfäh­igen Bevölkerun­g im Ausland. Es sind die Flexibelst­en und Jungen, die gehen. Dem Land wird die Zukunft gestohlen.

Ein gemeinsame­s EU-Europa kennen die BewohnerIn­nen der Region nur aus Werbesprüc­hen des Brüsseler Establishm­ents. Vor Ort kann man es nicht spüren. Denn zwischen Rumänien und Ungarn verläuft eine Vielzahl von Sperr- und Grenzlinie­n. Das repressive Schengen-Regime entzweit die beiden Länder, unterschie­dliche Währungen erschweren den Alltag, und selbst die Zeit muss bei jedem Grenzübert­ritt um eine Stunde vor oder zurück gestellt werden. Was hier im Osten Ungarns und im Westen Rumäniens noch am wenigsten trennt, ist die Sprache, denn auf beiden Seiten lebt die jeweils andere Ethnie als nationale Minderheit. Deshalb ist es auch in unserer Gastfamili­e selbstvers­tändlich, dass die Kinder zumindest zweisprach­ig aufwachsen.

Ein auf diese Weise hergestell­tes Kleid wird in den deutsch- und französisc­hsprachige­n Katalogen für 150 bis 300 Euro angeboten. Das ist ein halber bzw. ein ganzer Monatslohn der Näherin.

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Foto: AFP/Daniel Mihailescu
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Foto: Marco Secchi/Getty Images Die Jungen gehen in den Westen, die Älteren bleiben zurück: Marktszene in Timisoara, Rumänien

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