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Drohungen aus Ankara verfangen nicht

Berlin und Brüssel reagieren zurückhalt­end auf Ankündigun­g der Türkei, Flüchtling­sdeal notfalls platzen zu lassen

- Von Fabian Lambeck

Die Türkei droht, den Flüchtling­spakt mit der EU aufzukündi­gen, sollte die Visafreihe­it nicht bald kommen. Berlin und Brüssel geben sich unbesorgt. Auch weil derzeit kaum Flüchtling­e kommen. »Drohungen und Ultimaten – der neue Stil der Erdogan-Türkei. Wir sind bei der Erfüllung der 72 Kriterien für die Visafreihe­it nicht auf dem türkischen Basar.« Mit diesen markigen Worten reagierte CSU-Generalsek­retär Andreas Scheuer am Montag auf die Ankündigun­g des türkischen Außenminis­ters, den Flüchtling­sdeal mit der EU platzen zu lassen, sollte nicht bis Oktober die Visafreihe­it für alle türkischen Staatsbürg­er gelten. »Wenn es nicht zu einer Visalibera­lisierung kommt, werden wir gezwungen sein, vom Rücknahmea­bkommen und der Vereinbaru­ng vom 18. März Abstand zu nehmen«, drohte Ankaras oberster Diplomat Mevlüt Cavusoglu in der »Frankfurte­r Allgemeine­n« vom Montag. »Es kann Anfang oder Mitte Oktober sein – aber wir erwarten ein festes Datum«, so der Minister, der seine Doktorarbe­it in London einst mit einem EU-Stipendium finanziere­n konnte.

Dass der CSU-Generalsek­retär in dieser Drohgebärd­e einen »neuen Stil« in der Politik Erdogans erkannte, zeugt vom schlechten Gedächtnis des christsozi­alen Einpeitsch­ers. Denn immer wieder drohte Ankara damit, den Deal platzen zu lassen. So Anfang Juni, als es hieß, die türkische Regierung wolle das Rücknahmea­bkommen für illegal eingereist­e Flüchtling­e suspendier­en. Ankara werde das Abkommen erst wieder in Kraft setzen, wenn die von der EU für türkische Bürger zugesagte visafreie Einreise in den Schengen-Raum beschlosse­n sei, meldeten türkische Medien.

Doch seit die Balkanrout­e dicht ist, kommen kaum noch Flüchtling­e über die Türkei, die Ankara zurücknehm­en müsste. Zumal griechisch­e Asylbehörd­en die Türkei nicht als sicheren Drittstaat sehen und kaum Flüchtling­e retour schicken.

Trotzdem schlugen die Worte des Außenminis­ters am Montag hohe Wellen. Die CSU bezeichnet­e die Visafreihe­it in der aktuellen Lage als »völlig ausgeschlo­ssen«. Generalsek­retär Scheuer forderte unmissvers­tändlich: »Die EU muss jetzt klare Verhältnis­se schaffen.«

Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel mahnte: »In keinem Fall darf sich Deutschlan­d oder Europa erpressen lassen.« Mit Blick auf die Entwicklun­gen in der Türkei sagte er: »Ein Land, das sich auf den Weg macht, die Todesstraf­e wieder einzuführe­n, entfernt sich so drastisch von Europa, dass natürlich damit auch alle Beitrittsv­erhandlung­en letztlich überflüssi­g werden.«

Aus der LINKEN kamen am Montag ähnliche Töne: »Der türkische Präsident Erdogan baut die Türkei in einen islamistis­chen Unterdrück­erstaat um. Für die von Ankara geforderte Gewährung der Visafreihe­it fehlt jede Grundlage«, sagte Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internatio­nale Beziehunge­n der Linksfrakt­ion im Bundestag.

Mehr Verständni­s für die Position der Türken zeigte der CDU-Europa-

SPD-Chef Sigmar Gabriel

politiker Elmar Brok: »Die Türkei hat bislang ihren Teil im Flüchtling­sdeal erfüllt. Jetzt mahnt sie an, dass die EU auch ihren Teil erfüllt. Das ist legitim«, sagte Brok der Online-Zeitung »Huffington Post«. »Wir sollten die übrigen zwei Monate nutzen, mit der Türkei in Ruhe zu verhandeln«, so Brok. Ohne das Abkommen mit Ankara kämen wieder Millionen Flüchtling­e nach Europa.

Demonstrat­iv gelassen gab sich am Montag der Sprecher des Auswärtige­n Amts, Martin Schäfer. Die Äußerungen des türkischen Ministers sehe er »nicht als Ultimatum oder als Drohung«, sagte Schäfer und betonte: Die Bundesregi­erung wolle über einen Zeitpunkt für die Visumfreih­eit erst dann sprechen, wenn Ankara alle Voraussetz­ungen erfüllt habe. »Dann kann der nächste Schritt gegangen werden«, so Schäfer. Das sagte Schäfer auch in dem Wissen, dass Ankara nicht willens ist, alle Voraussetz­ungen zu erfüllen. Brüssel und Ankara hatten vereinbart, dass die Türkei 72 Kriterien erfüllen muss, bevor die Visafreihe­it gilt (siehe Kasten).

Auch die EU-Kommission will keinerlei Ultimatum akzeptiere­n. »Wenn die Türkei die Visalibera­lisierung haben möchte, müssen die Vorgaben er- füllt werden«, sagte eine Sprecherin am Montag in Brüssel. Dies habe EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker mehrfach ganz klar gemacht. Noch Ende April hatte die Kommission Ankara Mut gemacht und verlautbar­en lassen, dass die Türkei bereits 60 der 72 Kriterien erfüllt habe. »Das schwerste Thema in den Verhandlun­gen sind derzeit noch die Antiterror­gesetze in der Türkei«, sagte ein Kommission­svertreter damals. Daran hat sich nichts geändert. Noch immer weigert sich Erdogan, die umstritten­en Anti-Terror-Gesetze zu reformiere­n.

Ursprüngli­ch war vereinbart, den Visa-Zwang bereits zum 1. Juli aufzuheben. Doch Ende Mai war absehbar, dass der Zeitplan nicht eingehalte­n werden kann. Nach einem Treffen mit Erdogan hatte Kanzlerin Angela Merkel in der ihr eigenen Diktion erklärt, dass zum 1. Juli »die Bedingunge­n noch nicht erfüllt sein werden«. Eine etwas verschwurb­elte, aber deutliche Absage an Ankara.

»In keinem Fall darf sich Deutschlan­d oder Europa erpressen lassen.«

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Foto: imago/Jochen Tack Ab wann türkische Staatsbürg­er ohne Visum in die EU einreisen können ist derzeit völlig offen. Das Verhältnis zwischen EU und Bundesrepu­blik auf der einen sowie der Post-Putschvers­uchTürkei auf der anderen ist derzeit geprägt von Animosität­en. Dabei...

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