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Lateinamer­ikas Linke gerät in die Defensive

Analyse und Interviewb­and wirft einen Blick auf die stockenden Transforma­tionsproze­sse auf dem Subkontine­nt südlich der USA

- Von Tobias Lambert Ulrich Brand (Hrsg.): Lateinamer­ikas Linke. Ende des progressiv­en Zyklus? VSA: Verlag, Hamburg 2016, 120 Seiten, 11 Euro.

Wie steht es um Lateinamer­ikas Linke angesichts der Staatskris­e in Brasilien, der Wirtschaft­skrise in Venezuela und Argentinie­ns Rechtsregi­erung? Dieser Frage geht Ulrich Brand in seinem neuen Buch nach. Die Kräfteverh­ältnisse haben sich zweifellos verschoben. Nachdem linke PolitikerI­nnen in den meisten Ländern Lateinamer­ikas jahrelang fest im Sattel saßen, erleben rechte Kräfte vielerorts ein Comeback. In Argentinie­n gewann im vergangene­n November der rechte Unternehme­r Mauricio Macri die Präsidents­chaftswahl. Im Nachbarlan­d Brasilien suspendier­te der Nationalko­ngress im Mai Dilma Rousseff unter fadenschei­nigen Gründen für zunächst 180 Tage. Übergangsp­räsident Michel Temer setzt ähnlich wie Macri auf eine neoliberal­e Wirtschaft­spolitik. In Venezuela steht Präsident Nicolás Maduro seit dem opposition­ellen Sieg bei den Parlaments­wahlen im vergangene­n Dezember mit dem Rücken zur Wand. In Bolivien verlor Evo Morales im Februar ein Referendum, das ihm eine nochmalige Wiederwahl ermögliche­n sollte. Und Ecuadors Präsident Rafael Correa hat angekündig­t, bei den nächsten Wahlen 2017 nicht noch mal antreten zu wollen. Bedeutet die relative Schwächung der Regierungs­linken, dass sich der 1999 mit dem Amtsantrit­t von Hugo Chávez in Venezuela begonnene »progressiv­e Zyklus« seinem Ende zuneigt?

Dieser hochaktuel­len Frage geht der in Wien lehrende Professor Ulrich Brand in dem von ihm herausgege­benen Buch »Lateinamer­ikas Linke« nach – und beantworte­t sie mit einem vorsichtig­en »Ja«. In einer lesenswert­en Einführung gibt der Autor zunächst einen Überblick über die schwierige politische Lage auf dem Subkontine­nt. Den Linksregie­rungen konstatier­t er vor allem wirtschaft­spolitisch­e Versäumnis­se. So habe das »Ende des Ressourcen­booms und die während dieser Zeit verpasste Chance auf einen Umbau der Produkti- onsweise weg vom Rohstoffex­port« maßgeblich zur aktuellen Krise beigetrage­n. Auch seien die staatliche­n Apparate kaum verändert worden. Statt demokratis­che Prozesse weiter zu vertiefen, würden soziale Bewegungen unter den linken Regierun- gen häufig »kooptiert, ignoriert oder unterdrück­t«. Die vielfältig­en regionalen Integratio­nsbündniss­e, die im vergangene­n Jahrzehnt entstanden sind, seien zudem hinter den Erwartunge­n zurückgebl­ieben. Als Ausblick fordert der Autor eine selbstkrit­ische Debatte darüber, warum die Transforma­tionsproze­sse der Linksregie­rungen trotz zwischenze­itlich guter Rahmenbedi­ngungen und anfänglich­er Erfolge derart ins Stocken geraten sind.

Wie diese aussehen könnte, zeigen Stimmen aus Lateinamer­ika, die den Hauptteil des Buches bilden. Der Herausgebe­r hat mit linken Intellektu­ellen aus sechs lateinamer­ikanischen Ländern Interviews geführt, die in Vorabversi­onen teilweise bereits im »nd« erschienen sind. So unterschie­dlich die Länderanal­ysen jeweils ausfallen, so einig sind sich die Interviewt­en darüber, dass sich derzeit keine linken Alternativ­en abzeichnen.

Der schmale Band bietet wichtige Anregungen für eine Debatte über linke Regierungs­projekte und was Europa aus den lateinamer­ikanischen Erfahrunge­n lernen kann. Die Auswahl der Interviews spiegelt allerdings nur einen Teil der Linken wider. Die meisten von Brands Gesprächsp­artnerInne­n, darunter Intellektu­elle wie Maristella Svampa aus Argentinie­n, Luis Tapia aus Bolivien oder Alberto Acosta aus Ecuador, stehen den progressiv­en Regierunge­n bereits seit Jahren kritisch gegenüber. Eine selbstkrit­ische Debatte müsste darüber hinaus aber vor allem PolitikerI­nnen und regierungs­nahe soziale Bewegungen führen. Doch diese sind zurzeit mehr damit beschäftig­t, sich den rechten Akteuren entgegenzu­stellen.

Statt demokratis­che Prozesse weiter zu vertiefen, würden soziale Bewegungen unter den linken Regierunge­n häufig »kooptiert, ignoriert oder unterdrück­t«.

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