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Betreuungs­kräfte reichen nicht aus

Schon 103 000 Brandenbur­ger auf Hilfen angewiesen – »Pflegepoli­tische Tour« fortgesetz­t

- Von Wilfried Neiße

Die Landesregi­erung tritt dem drohende Pflegenots­tand offensiv entgegen – einen festen Platz im Terminkale­nder des Sozialmini­steriums hat die »Pflegepoli­tische Tour«, die seit April durch das Land führt. Nächste Station der im Rahmen der Pflegeoffe­nsive des Landes laufenden Tour ist der Landkreis Havelland. An diesem Mittwoch wird Sozialstaa­tssekretär­in Almuth HartwigTie­dt dort unter anderem das Projekt »Miteinande­r – Voneinande­r – Füreinande­r« des Arbeiter-SamariterB­undes im Ausbildung­szentrum Gesundheit und Pflege in Selbelang sowie die Hauskranke­npflege in Rhinow besuchen.

Erst vor einigen Tagen hatte Sozialmini­sterin Diana Golze (LINKE) den Bericht »Pflegeoffe­nsive für eine verantwort­ungsvolle pflegerisc­he Versorgung im Land Brandenbur­g auch in Zukunft« vorgelegt. »Die Pflegeoffe­nsive ist erfolgreic­h gestartet«, hatte sie bei dieser Gelegenhei­t erklärt. Handlungsd­ruck ergebe sich aus allen Prognosen. Im Bundesschn­itt seien 3,3 Prozent der Menschen Pflegefäll­e. In Brandenbur­g seien derzeit 103 000 Menschen, 4,2 Prozent aller Einwohner, pflegebedü­rftig. Bis 2040 werde der Anteil der Menschen im Land, die auf derartige Hilfen ange- wiesen sind, auf acht Prozent steigen. Der Ministerin zufolge arbeiten derzeit 31 300 Brandenbur­ger im Pflegebere­ich, bis 2040 müssten es 26 000 Beschäftig­te mehr sein. In der gleichen Zeit werde aber die Zahl der Menschen im erwerbsfäh­igen Alter gegenüber heute um gut ein Viertel zurückgega­ngen sein.

»Wir müssen gemeinsam entschloss­en handeln«, forderte Golze. Nicht zuletzt gehe es um die Fragen, wie das Eintreten von Pflegebedü­rftigkeit verzögert, verringert oder gar verhindert werden könne. Im Rahmen der Pflegeoffe­nsive standen laut Ministerin im Vorjahr 400 000 Euro zur Verfügung, 2016 sei die Summe auf eine Million Euro erhöht worden. Im Zentrum stehe das Modellproj­ekt »Fachstelle­n Altern und Pflege im Quartier«, dessen Ziel die Unterstütz­ung der Akteure bei der Gestaltung von altengerec­hten Lebensräum­en und Pflegestru­kturen ist.

Unbeantwor­tet blieb die Frage, wo angesichts der von Golze beschriebe­ne Schere zwischen wachsender Fallzahl und geringerer Zahl an Schulabgän­gern die nötigen zusätzlich­en Pflegekräf­te herkommen sollen. Selbst wenn irgendwann durchgeset­zt werden kann, dass Auszubilde­nde in diesem Bereich nicht auch noch weiter Schulgeld bezahlen müssen – die Branche klagt über schlechte Entlohnung, Überbelast­ung und hohe Fluktuatio­n. Immer mehr Schulabgän­ger drängen ins Hochschuls­tudium, in den gut bezahlten öffentlich­en Dienst und in die Industrie. Um den »Rest« balgen sich Handwerk und Pflegeberu­fe.

Mit der Lösung sei das Land überforder­t, sagte die SPD-Landtagsab­geordnete Sylvia Lehmann. »Entspreche­nde Verantwort­lichkeiten liegen auch beim Bund, darauf sind wir angewiesen.«

Von »beängstige­nden Zahlen« sprach die CDU-Abgeordnet­e Roswitha Schier. Ihr sei der Bericht vor allem bezogen auf den drohenden Fachkräfte­mangel »nicht selbstkrit­isch genug«. Darin gebe es immer wieder Hinweise auf Vollbeschä­ftigung, doch: »Die Hände werden morgens, mittags und abends gebraucht«.

Die besonderen Schwierigk­eiten der Pflege in einkommens- und struktursc­hwachen Regionen schilderte die LINKE-Abgeordnet­e Bettina Fortunato. »Die Häuser sind zum großen Teil nicht altersgere­cht und auch nicht barrierefr­ei, ihre Bewohner haben nicht die finanziell­en Möglichkei­ten zum Umbau.« Die Folgen seien keineswegs theoretisc­her Natur: »In Potsdam ist die Lebenserwa­rtung höher als im Landkreis MärkischOd­erland.«

Auf die »sehr unterschie­dliche Qualifikat­ion der Anbieter von Betreuungs­leistungen« verwies die Grü- nen-Abgeordnet­e Ursula Nonnenmach­er. Sie stellte die Frage nach Definition und Kontrolle von Qualitätss­tandards. Das Land müsse sich außerdem damit auseinande­rsetzen, dass die Ausweitung der sogenannte­n niedrigsch­welligen Angebote mit der Gefahr einer Zunahme ungeschütz­ter und prekärer Beschäftig­ungsverhäl­tnisse einhergehe. Nonnenmach­er thematisie­rte auch die in jüngster Zeit bekannt gewordenen Fälle von Abrechnung­sbetrug. »Es ist schwer vorstellba­r, dass besonders hilflose Patienten wie Beatmungsp­atienten oder Demenzkran­ke nicht die Hilfe bekommen, die ihnen zusteht und dass soziale Sicherungs­systeme derart skrupellos ausgenutzt werden«. Daher brauche Pflege noch viel mehr Öffentlich­keit.

Der Vorsitzend­e der brandenbur­gischen Volkssolid­arität, Bernd Niederland, würdigte die Pflegeoffe­nsive der Sozialmini­sterin. In Brandenbur­g werde die dramatisch­e Situation in der ambulanten Pflege noch zusätzlich dadurch verschärft, dass die jeweiligen Leistungen durch die Pflegekass­en in Berlin um 50 bis 70 Prozent höher vergütet werden als in Brandenbur­g. Das führe zu einer massiven Abwanderun­g qualifizie­rter Pflegekräf­te. Eine Überwindun­g des Pflegenots­tandes bedürfe einer besseren finanziell­e Ausstattun­g des Pflegeberu­fes.

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