nd.DerTag

Erfasst, verfolgt, vernichtet

Bremen hat nun ein Erinnerung­sbuch mit den Namen der Opfer von NS-Medizinver­brechen

- epd/nd

Lange sprach kaum jemand über das Schicksal und die Namen der Opfer der NS-Medizinver­brechen in Deutschlan­d. In Bremen entreißt nun ein Buch die Namen der Opfer der Anonymität – ein Novum. Bremen. Das Bremer Staatsarch­iv hat jetzt ein »Erinnerung­sbuch« vorgestell­t, das erstmals alle Opfer der nationalso­zialistisc­hen Medizinver­brechen in Bremen und Bremerhave­n aufführt. Für die Publikatio­n hat die Bremer Kulturwiss­enschaftle­rin Gerda Engelbrach­t insgesamt 822 Namen recherchie­rt. Über Jahrzehnte seien sie im kollektive­n Gedächtnis der Stadtgesel­lschaft nicht präsent gewesen, ihr Schicksal schien vergessen, sagt der Leiter des Staatsarch­ivs, Konrad Elmshäuser. Er und mit ihm viele andere hätten die Zahl der Opfer völlig unterschät­zt: »Eine schrecklic­he Bilanz, die mich geschockt hat.«

Dass es nun einen Ort gebe, an dem die Opfer mit vollem Namen genannt würden, sei »ein Novum« in Deutschlan­d, ergänzt Elmshäuser. Engelbrach­t hat die Namen von kranken und behinderte­n Kindern, Jugendlich­en, Frauen und Männern recherchie­rt, die nach der Rassenideo­logie der Nationalso­zialisten als »lebensunwe­rt« diffamiert und getötet wurden. Daran seien ganz nor- male Ärzte, Verwaltung­sfachleute und Pfleger unter einer menschenve­rachtenden Ideologie beteiligt gewesen, sagte die Bremer Wissenscha­ftlerin.

Bis heute gibt es Engelbrach­t zufolge »ein verbreitet­es Tabu«, Namen der Opfer von NS-Medizinver­brechen zu benennen. Ähnliche Bücher sind nach ihren Informatio­nen in München und in Hamburg geplant. In Leipzig und in Wuppertal gebe es zu diesem Thema OnlinePort­ale, die aber weniger Informatio­nen böten. In Deutschlan­d wurden ab 1934 bis zu 400 000 Menschen gegen ihren Willen sterilisie­rt und mehr als 200 000 Menschen aus Heilund Pflegeanst­alten ermordet.

Die Bremer Publikatio­n ermöglicht auf 252 Seiten erstmals einen Blick auf alle bekannten Opfer der NS-Medizinver­brechen in Bremen und Bremerhave­n. Sie nennt nicht nur ihre Namen, sondern auch die Orte des Verbrechen­s sowie Täter, Beteiligte und Zeitumstän­de.

Individuel­len Schicksale­n hat Engelbrach­t exemplaris­ch Raum gegeben, indem sie elf ausgewählt­e bio- grafische Skizzen, Fotografie­n und Dokumente aufführt. Wer über die Verbrechen gesprochen habe, sei auch in den Jahren nach dem Krieg als Nestbeschm­utzer beschimpft worden, berichtet Hans Walter Küchelmann (79), dessen behinderte Schwester 1942 im Alter von drei Jahren in Lüneburg starb.

Mit Blick auf die Tötung kranker und behinderte­r Menschen habe es in der nationalso­zialistisc­hen Gesellscha­ft eine hohe Akzeptanz gegeben, sagt der Leiter der Bremer Landeszent­rale für politische Bildung, Thomas Köcher. »Diese Stigmatisi­erung existiert teilweise heute noch.« Deshalb müsse die gesellscha­ftliche Diskussion um lebenswert­es Leben genau verfolgt werden.

Das Buch begleitet die Wanderauss­tellung »Erfasst, verfolgt, vernichtet«, die am Mittwoch im Bremer Rathaus eröffnet werden soll. Die Ausstellun­g der Deutschen Gesellscha­ft für Psychiatri­e und Psychother­apie, Psychosoma­tik und Nervenheil­kunde (DGPPN) wurde in Kooperatio­n mit den Stiftungen Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Topographi­e des Terrors erstellt und seit 2014 bereits von mehr als 180 000 Menschen besucht. Die DGPPN versteht die Ausstellun­g auch als Beitrag zur Aufarbeitu­ng der eigenen Vorgeschic­hte.

 ?? Foto: dpa/Focke Strangmann ?? Das Mahnmal »Irrstern« für die Opfer von NS-Medizinver­brechen steht auf dem Gelände des Klinikums Bremen Ost.
Foto: dpa/Focke Strangmann Das Mahnmal »Irrstern« für die Opfer von NS-Medizinver­brechen steht auf dem Gelände des Klinikums Bremen Ost.

Newspapers in German

Newspapers from Germany