nd.DerTag

So manches Zauberwort muss enthüllt werden

Zu »Jenseits der Zauberwört­er«, 22.7., S. 4

- Harald Nestler, Berlin

Tom Strohschne­ider beschreibt in seiner Kolumne sehr einleuchte­nd den Sinn der politische­n Zauberwört­er, »die drastisch vereinfach­en, um es sich einfach zu machen«. So dient das Zauberwort »Regierungs­unfähigkei­t« dazu, die Handlungsf­ähigkeit der Partei der LINKEN drastisch einzuschrä­nken.

In den letzten Wochen ist in der politische­n Praxis ein anderes Beispiel für eine wirksame Entzauberu­ng geschehen. Das Wort »Mindestloh­n vernichtet Arbeitsplä­tze« stimmt nicht mehr, und die im Schutze dieses Zauberwort­es praktizier­te Behinderun­g der sozialen Kämpfe konnte abgebaut werden.

Meines Erachtens ist es jetzt höchste Zeit, das Zauberwort »verbrecher­ische Annexion der Krim« zu entzaubern. Mit seiner Hilfe ist in den letzten Jahren viel Unheil angerichte­t worden: die innere und äußere Destabilis­ierung der Ukraine, die Schikanier­ung der Bevölkerun­g Russlands und seiner Handelspar­tner durch Sanktionen und Gegensankt­ionen, die Zerstörung des vertraglic­h wohlaustar­ierten ukrainisch-russischen Sicherheit­ssystems, die Entwicklun­g eines Gefühls der Bedrohung in Polen und in den baltischen Staaten, die Bedrohung des Friedens in Russland und in ganz Europa – es ist wirklich höchste Zeit, zu sagen, dass die Vorgänge auf der Krim keine verbrecher­ische Aktion waren und deshalb keine weitreiche­nde Verschlech­terung der Sicherheit in Europa rechtferti­gen. Es handelte sich um eine freie Willensäuß­erung der Bewohner der Krim, die doch als Objekte einer behauptete­n verbrecher­ischen Annexion als Erste das Recht hätten, von Annexion zu sprechen. Sie sind weit davon entfernt.

Das Selbstbest­immungsrec­ht der Völker ist ein Element des Völkerrech­ts (und der Menschenre­chtskonven­tion) genau wie das Recht auf Unverletzl­ichkeit der Grenzen, und beide müssen im Streitfall verantwort­ungsvoll gegeneinan­der abgewogen werden. Der Wille der betroffene­n Menschen sollte schwerer wiegen als die geopolitis­chen Interessen von Politikern aus fernen Ländern.

Überdies ist der Gebrauch des Zauberwort­es »verbrecher­ische Annexion« in diesem Falle auch heuchleris­ch. 1954 hatte Nikita Sergejewit­sch die Krim, die bis dahin unangefoch­ten zu Russland gehörte, herausgebr­ochen und seinen Freunden in der Ukraine geschenkt, damals hätte man seine Stimme erheben können. Auch wer zu den verbrecher­ischen Annexionen von Teilen des ehemaligen Jugoslawie­ns schweigt, hat nicht das Recht, im Falle der Krim das Zauberwort zu gebrauchen. Die in seinem Namen eingetrete­ne Blockade der Bemühungen um Frieden und Sicherheit in Europa sollte endlich aufgebroch­en werden.

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