Der Höhepunkt der Erdogan-Festspiele
Auch die Oppositionsparteien CHP und MHP nehmen an Großdemonstration teil, HDP wird geächtet
Auf Einladung von Präsident Erdogan versammelten sich am Sonntag in Istanbul Hunderttausende Menschen zur bislang größten Kundgebung gegen den Putsch in der Türkei. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat am Sonntag in Istanbul auf einer Großdemonstration erneut schwere Beschuldigungen gegen den in den USA im Exil lebenden türkischen Prediger Fethullah Gülen erhoben und ihn sowie seine Bewegung der Anzettelung des Militärputsches vom 15. Juli beschuldigt. Nach Angaben des katarischen Senders Al Dschasira sollen mehrere hunderttausend Menschen dem Aufruf von Erdogan zur Teilnahme an der »Demokratie- und Märtyrerversammlung« gefolgt sein.
In seiner Rede griff Erdogan die westeuropäischen Regierungen erneut scharf an und beschuldigte sie sogar der Kumpanei mit den Putschisten, ohne konkret zu werden. Erdogan beklagte, dass von ihm namentlich genannte GülenVertreter, ob in Deutschland oder den USA, bisher nicht, wie von ihm verlangt, ausgeliefert worden seien. Das stellte er als hinreichende Erklärung für die von ihm behauptete Türkei-Feindlichkeit des Westens dar. Wörtlich sagte Erdogan laut »Al Dschasira«: »Der Westen hat uns nicht gezeigt, dass er gegen den Putsch ist ... Sein Schweigen ist unentschuldbar.«
Sein scharfes Vorgehen gegen Andersdenkende, tatsächliche oder auch nur vermeintliche Putschisten bzw. Anhänger Gülens rechtfertigte er mit der Behauptung, dies sei eine Aufgabe, die ihm »vom türkischen Volk verliehen« worden sei. Er habe diese Aufgabe selbstverständlich angenommen. Deswegen sei er aber »kein Despot oder Diktator«. Erdogan hatte wie an jedem Abend zuvor in Ankara und Istanbul seit dem Putsch, das türkische Volk aufgerufen zusammenzustehen.
Allerdings legte er auch dieses Mal selbst fest, wer zu den Putschgegnern und damit Demokraten gehören darf und wer nicht. Von den drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien waren zwei ausdrücklich eingeladen: die sozialdemokratisch orientierte Republikanische Volkspartei (CHP) sowie die großtürkische Ziele vertretende Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Türkische Me- dien kolportieren, dass der CHPVorsitzende Kemal Kilicdaroglu lange gezögert habe, während MHP-Chef Devlet Bahceli sofort zugesagt haben soll.
Ministerpräsident Binali Yildirim hatte die Anhänger der Regierungspartei angewiesen, diesmal keine Parteisymbole mitzubringen, sondern einfach als »Türken« teilzunehmen. »Der Geist einer Nation, einer Flagge, eines Heimatlands und eines Staats wird an diesem Tag vorherrschen«, wird Yildirim zitiert. Den Fernsehbildern nach zu urteilen, wurden die Regiewünsche des Staats- und des Ministerpräsidenten getreulich verfolgt.
Dazu gehörte auch, dass Anhänger der dritten Oppositionspartei, der kurdischen linken Gruppierung Demokratische Partei der Völker (HDP), ausdrücklich nicht zur Kundgebung eingeladen war, obwohl die HDP vom ersten Tage an den Putsch verurteilt hatte.
»Der Westen hat uns nicht gezeigt, dass er gegen den Putsch ist. Sein Schweigen ist unentschuldbar.« Recep Tayyip Erdogan
Die Bundesregierung hält trotz immer lauterer Kritik am Sinn der Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei fest, ebenso am Flüchtlingsabkommen Brüssels mit Ankara. Die Existenz oder wenigstens Notwendigkeit eines »Plans B« wird von Berlin wie Brüssel zurückgewiesen.
Muss es nach den alarmierenden Vorgängen in der Türkei nicht ein Umdenken in der EU im Verhältnis zu Ankara geben? Wien hat dazu deutlich Ja gesagt. Berlin und Brüssel aber lavieren weiter. Nach 26 000 Festnahmen und 80 000 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, der willkürlichen Schließung von Kliniken, Schulen, Medien jeglicher Art in der Türkei innerhalb von nur drei Wochen ist die Schmerzgrenze längst überschritten. Sowohl die Bundesregierung als auch die EUKommission hätten längst deutliche Worte des Protestes gegenüber Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan finden müssen. Und nicht nur das.
Selbst wenn man Erdogans Märchen von der Putschistenbestrafung wider eigene Überzeugung unwidersprochen lässt und selbst wenn man die immer weitere Kreise ziehende Jagd auf Andersdenkende als innere Angelegenheit der Türkei durchgehen lässt – auch dann wären praktische Konsequenzen im Verhältnis zu Ankara zwingend erforderlich, weil sie der Beschlusslage entsprächen. Konkret müsste die EU ihre Verhandlungen mit der Türkei zu deren Beitritt sofort abbrechen.
Gründe dafür gibt es viele, seien es die Schließung von Fernsehsendern, Verlagen und Zeitungen, seien es der bereits lange vor den Putschereignissen entfesselte Krieg gegen das eigene Volk im kurdische Landesteil oder die gravierende Einschränkung der Demonstrations- und Meinungsfreiheit. Selbst wenn Brüssel da noch Verhandlungspotenzial sehen möchte – allein schon das unverantwortliche Palaver über die Wiedereinführung der Todesstrafe, die der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim ins Spiel brachte, hätte zum sofortige Ende der Verhandlungen führen müssen, weil die Türkei damit vertragsbrüchig geworden ist.
Am 2. August 2002 hatte das türkische Parlament ein Gesetz »zur Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten« angenommen. Zwei Jahre später wurde Todesstrafe »für alle Zeiten« gesetzlich abgeschafft. Selbst wenn nach den Bestimmungen des von Erdogan verhängten Ausnahmezustandes manches an Terror und Willkür jetzt »rechtens« sein sollte, auf keinen Fall gehört dazu die Wiedereinführung der Todesstrafe. Absprachen mit der EU, der es vor 15 Jahren vor allem um die Nichtvollstreckung des gegen Kurdenführer Abdullah Öcalan verhängten Todesurteils ging, sehen vor, dass auch eine öffentliche Debatte bereits zur Suspendierung der Gespräche ausreicht. Wenn diese Debatte der Ministerpräsident anstößt, ist dies auf jeden Fall gegeben.
Aber davor will man in Berlin und Brüssel krampfhaft die Augen verschließen. Man fürchtet Ankaras beträchtliches Drohpotenzial. Neben der militärstrategischen Bedeutung der Türkei als westlicher Vorposten zur Kontrolle des Nahen und Mittleren Ostens ist es vor allem der im Frühjahr geschlossene Flüchtlingspakt, mit dem sich die EU in Erdogans Geiselhaft begeben hat.
Derzeit verhindert die türkische Polizei Fluchten von der türkischen Küste Richtung Europa, vor allem Griechenland, konsequent. Lässt man die Schlepper und Seelenverkäufer aber wieder gewähren, drohen erneut Tausende unkontrollierte Abfahrten mit den bekannten Folgen. Damit der türkische Staat dies verhindert, hat er von der EU Milliarden an Euro zugesagt bekommen, teilweise schon erhalten und bleibt weiter Beitrittskandidat. Aber das reicht Erdogan nicht. Er verlangt nichts weniger als die Visafreiheit für alle türkischen Bürger in alle EU-Staaten und zwar per Ultimatum bis Oktober.
Sich jetzt Gedanken darüber zu machen, also einen »Plan B« zu haben, wenn Erdogan das Abkommen aufkündige sollte, wird von der Bundesregierung allerdings strikt verweigert. So hatte die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, die SPD-Bundestagsabgeord- nete Bärbel Kofler, gefordert, das Abkommen müsse überprüft werden, weil rechtsstaatliche Prinzipien in der Türkei nicht mehr eingehalten würden. Geht derlei Erkenntnis an Kanzleramtsminister Peter Altmaier vorbei? Mit einem Ja täte man ihm wohl unrecht. Er ist nur auch in dieser Frage getreuer Verlautbarer von Platti- tüden, die seine Chefin nicht selbst artikulieren möchte. Folglich sagte Altmaier der »Berliner Zeitung«, er sehe keinen Anlass, von dem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei abzurücken: »Es gibt keinen Grund für einen Plan B.«
Nicht alle EU-Granden warten wie das Kaninchen vor der Schlange. Als erster Regierungschef eines EU-Landes sprach sich am Donnerstag im ORF der neue österreichische Bundeskanzler Christian Kern – Flüchtlingsabkommen hin oder her – für den Abbruch der Gespräche mit der Türkei aus. Das Abkommen sei nur noch »eine diplomatische Fiktion«. Außenminister Sebastian Kurz kündigte am Sonntag im Wiener »Kurier« ein Veto gegen das Eröffnen weiterer Kapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen an. Außerdem erfülle die Türkei zur Zeit auch keine Kriterien für eine Visaliberalisierung, so Kurz. Deshalb werde auch »der Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei« nicht halten.
Berlin, das selbst nicht den Mut hatte, als erster Klartext zu reden, hätte sich Wien jetzt wenigstens anschließen können. Doch im Gegenteil. Der Vorsitzende der Unionsfraktion, Volker Kauder, behauptete, die Türkei halte sich »beim Flüchtlingsabkommen an ihre Abmachungen mit der Europäischen Union«. Sie versorge drei Millionen Flüchtlinge und unterbinde das Schlepperwesen, sagte Kauder der Weimarer »Thüringischen Landeszeitung«. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sprach hinsichtlich Kerns Forderung sogar von einem »schwerwiegenden außenpolitischen Fehler«.
Das heißt nicht, dass die Regierenden hierzulande Kern nicht heimlich zustimmen würden. Aber man überlässt das Räsonieren Parteifreunden ohne Regierungsämter. So kann dann auch die CDU/CSU behaupten, etwas gemeint, ohne etwas gesagt zu haben. Es ist allerdings mehr als fraglich, dass sich Erdogan davon beeindrucken lässt.
»Es gibt keinen Grund für einen Plan B. Derzeit vollzieht sich alles so, wie es nach dem Abkommen sein soll.« Kanzleramtsminister Peter Altmaier