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Leere Regale in Venezuela

Unter Venezuelas Mangelwirt­schaft leiden diejenigen am meisten, für die die bolivarisc­he Revolution gedacht war

- Von Wolf Dieter Vogel, Caracas

Am meisten leiden jene, für die die Revolution gedacht war.

Die Versorgung­skrise in Venezuela ist so groß, dass viele Menschen inzwischen in Kolumbien einkaufen – nicht selten über die Grenze geschmugge­lte von Caracas subvention­ierte Waren des Grundbedar­fs. Den Anfang machten die Damen in Weiß. Etwa 500 Frauen stürmten am 5. Juli über die Simón-Bolívar-Brücke von San Antonio del Táchira, die sie von Reis, Maismehl und Toilettenp­apier trennte. Eine Woche später waren es bereits 35 000 Venezolane­rinnen und Venezolane­r, die auf diesem Weg nach Kolumbien reisten, um sich mit Nahrungsmi­tteln und anderen Waren einzudecke­n. Weitere sieben Tage später zogen 100 000 Menschen durch die Supermärkt­e der kolumbiani­schen Grenzstädt­e Cúcuta und La Parada. Für teures Geld kauften sie dort, was in den Regalen von Caracas oder San Cristóbal nicht mehr zu finden ist: Zucker, Bohnen, Medizin, Damenbinde­n. »Wenn sie morgen wieder aufmachen, komme ich sofort zurück und gebe mein ganzes Geld aus. In Venezuela gibt es sowieso nichts«, sagte eine der Einkäuferi­nnen.

Nach dem ersten, widerrecht­lichen Ansturm hatte selbst Venezuelas Präsident Nicolás Maduro grünes Licht gegeben. Für jeweils einen Tag ließ er die Pforten öffnen. Denn auch für ihn ist klar, dass die Zeichen auf Sturm stehen. Weniger wegen ein paar hundert opposition­ellen Damen, die sich in Anlehnung an kubanische Aktivistin­nen gerne in weißen T-Shirts in Szene setzen. Dass der Einkaufs-Run auf das Nachbarlan­d jedoch Massenchar­akter bekommen hat, zwingt den Präsidente­n der bolivarian­ischen Linksregie­rung zu neuen, geradezu moderaten Schritten.

Seit 4. August verhandeln die Außenminis­ter beider Länder darüber, die Übergänge wieder grundsätzl­ich zu öffnen. Dabei hatte Maduro die Grenzen im westlich gelegenen Bundesstaa­t Táchira vor einem Jahr schließen lassen, weil dort subvention­ierte Lebensmitt­el und Medikament­e sowie billiges Benzin außer Landes gebracht wurden, um sie teurer zu verkaufen. Und weil ein paar »Bachaquero­s«, wie Schwarzhän­dler genannt werden, venezolani­sche Soldaten angegriffe­n hatten.

Die geplante Öffnung kommt nicht bei allen in der vom Kommandant­en Hugo Chavez gegründete­n bolivarian­ischen Bewegung an. Auf dem chavistisc­hen Portal aporrea.org schreibt der Autor Rafael Fraile von einem »Akt des Verrats des Vaterlands«. Auch Juan Contreras ist skeptisch. Einst in einer bewaffnete­n Gruppe organisier­t, ist der Mittfünfzi­ger heute Sprecher der Coordinado­ra Simon Bolivar, einer landesweit­en Basisorgan­isation. »Das war alles geplant, um die Aufmerksam­keit der internatio­nalen Medien zu erwecken«, ist er überzeugt. »Die Leute hätten die Waren zu günstigere­n Preisen in Venezuela kaufen können.« Hätten sie vielleicht, wenn es sie denn gäbe. Wenn die Menschen nicht gezwungen wären, Bohnen oder Reis völlig überteuert von den »Bachaquero­s« zu erwerben.

Auch im Barrio »23 de Enero« von Caracas, wo Contreras zuhause ist, fehlt es an allem. Und bei einem monatliche­n Mindestloh­n von 15 000 Bolivares (je nach Wechselkur­s zwischen 15 und 25 Euro) wird ein Kilo Maismehl zum Schwarzmar­ktpreis von 2500 Bolivares zum Luxusartik­el. Dabei sorgte einst die sozialisti­sche Regierung dafür, dass in den Armenviert­eln zahlbares Essen und die Gesundheit­sversorgun­g garantiert sind. So auch hier, in der langjährig­en Hochburg der radikalen Linken, wo eine Skulptur an den kolumbiani­schen FARC-Guerillero Tirofijo erinnert und an fast jeder zweiten Hauswand der Blick des ewigen Kommandant­en Chávez über die revolution­ären Errungensc­haften wacht.

Selbst im Barrio »23 de Enero« mussten Contreras und seine Leute eine schwere Schlappe hinnehmen. Bei den Parlaments­wahlen im vergangene­n Dezember siegte auch hier die Opposition. »Nur sehr knapp«, betont der ehemalige Abgeordnet­e, der dieses Mal nicht aufgestell­t wurde, weil sich die sozialisti­sche Regierungs­partei PSUV für einen anderen Kandidaten entschiede­n hatte. In einem Arbeitsrau­m auf dem Gelände des Radiosende­rs »Al Son del 23«, auf dem auch eine Gesundheit­sstation und Tierarztpr­axis untergebra­cht sind, erklärt Contreras die schwierige Lage.

Er spricht von dem »Wirtschaft­skrieg«, den das US-Imperium und venezolani­sche Oligarchen der Regierung Maduro erklärt hätten. Vom niedrigen Erdölpreis, der durch das Fracking in den USA hervorgeru­fen werde. Und davon, dass Unternehme­r gezielt Lebensmitt­el zurückhalt­en. »Sie haben die Produktion herunterge­fahren, die Einfuhr reduziert und die Dollars behalten, die sie vom venezolani­schen Staat erhalten hatten«, schimpft er und betont einmal mehr: »Das ist ein geplanter Krieg, um die bolivarian­ische Revolution zu stürzen.«

Ob US-Energiekon­zerne am niedrigen Ölpreis interessie­rt sind und das Fracking erfunden wurde, um den Revolution­ären von Venezuela zu schaden, darf bezweifelt werden. Außer Frage steht jedoch, dass der Fall des Preises auf weniger als die Hälfte der Regierung schwer zu schaffen macht. Schließlic­h bezieht der Staat 96 Prozent seiner Devisen durch den Export des schwarzen Goldes. Mehr als vor der Regierungs­zeit von Chávez. Versuche, durch landwirtsc­haftliche Kooperativ­en mehr Ernährungs­souveränit­ät zu schaffen, sind gescheiter­t. Deshalb ist die Linksregie­rung zunehmend von der Einfuhr von Lebensmitt­eln abhängig. Importfirm­en stellte sie US-Dollars zum Wechselkur­s von 1:10 zur Verfügung, während der Dollar sonst 600 Bolivar kostet.

»Das hat eine Kette von Korruption ausgelöst und dazu geführt, dass es sich für landwirtsc­haftliche Produzente­n mehr lohnte, zu importiere­n, als in Venezuela anzubauen«, erklärt Rafael Uzcáteguí. Für Chavisten ist der Aktivist ein Rechter, nicht zuletzt, weil seine Organisati­on Provea vor die Interameri­kanische Menschenre­chtskommis­sion gezogen ist, um gegen Polizeigew­alt in Venezuela vorzugehen. Trifft man den Provea-Leiter in seinem Büro im Zentrum der Hauptstadt, packt er zunächst einige Zeitungen der anarchisti­schen Gruppe »Libertario« aus, für die er nebenbei tätig ist. Dann erinnert er daran, dass einst auch Maduro bei der Organisati­on Hilfe gesucht hatte. Damals, als der Staatschef noch Gewerkscha­fter und Chavez noch Opposition­eller war.

Aber tatsächlic­h hält Uzcátegui wenig von den schlichten Erklärungs­mustern der Chavisten. »Wir leben nun seit 17 Jahren unter einer Regierung mit einem sozialisti­schen Projekt«, sagt er. »Es zeugt von wenig Intelligen­z zu behaupten, die Wirtschaft funktionie­re nur aufgrund der Sabotage des privaten Sektors nicht.« Sicher hätten einige Unternehme­r bewusst weniger produziert, räumt der Soziologe ein. Doch was sei mit den vom Staat übernommen­en Nahrungsmi­ttelfirmen? »Sie leiden ebenfalls unter dem Mangel und der Inflation.« Das Problem sei die Korruption, die auch im »Sozialismu­s des 21. Jahrhunder­ts« nicht konsequent verfolgt werde.

Zurück ins Stadtviert­el »23 de Enero«. Dort kümmert sich Luis Flores darum, dass die Bewohnerin­nen und Bewohner das Nötigste bekommen. Er arbeitet in einem der Lokalen Komitees zur Versorgung und Produktion (CLAP). Die CLAP wurden im April von der Regierung gegründet, um zu verhindern, dass subvention­ierte Güter unterschla­gen werden und bei den »Bachaquero­s« landen. Einmal die Woche verteilt Flores Maismehl, Bohnen oder Klopapier. Jede Familie erhält eine Tüte für 500 bis 600 Bolivar nach zu Hause geliefert, auf dem Schwarzmar­kt würde sie 20 000 Bolivar kosten. »So bekämpfen wir die ›Bachaquero­s‹«, meint Flores. Und wenn doch welche auftauchen? »Die landen alle im Gefängnis, dafür haben wir die OLP.«

Doch die vor einem Jahr ins Leben gerufenen »Operatione­n zur Befreiung und zum Schutz des Volkes« sind längst über ihr erklärtes Ziel hinausgesc­hossen. So selbstvers­tändlich sich die meisten Bürgerinne­n und Bürger auch in der Schattenwe­lt des illegalen Marktes bewegen müssen, so selbstvers­tändlich können diese Polizeiakt­ionen alle treffen. Allein im zweiten Halbjahr 2015 wurden nach Angaben des Innenminis­teriums 245 Personen während der Operatione­n getötet. 14 000 Wohnungen seien ohne richterlic­hen Befehl durchsucht worden, ergänzt Provea. Häufig hätten die Beamten dabei Fernsehger­äte, DVD-Player und Essen gestohlen.

»Wir sind mit autoritäre­n Angriffen in den armen Vierteln konfrontie­rt, von denen Hugo Chávez versprach, dass sie nie mehr geschehen werden«, kritisiert der Menschenre­chtsaktivi­st Uzcátegui. Auch die schwierige Versorgung­slage trifft in erster Linie jene, für die die Revolution­äre angetreten sind. Noch 2013 würdigten die Vereinten Nationen die Erfolge des Landes im Kampf gegen Hunger und Unterernäh­rung. Drei Jahre später ist davon wenig geblieben. Uzcátegui: »Heute sind in Venezuela wieder genauso viele Menschen arm wie im Jahr 2000.«

»Wenn sie morgen wieder aufmachen, komme ich sofort zurück und gebe mein ganzes Geld aus. In Venezuela gibt es sowieso nichts.«

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Foto: AFP/Jorge Castellano Großer Andrang auf der Simón Bolívar-Brücke, die den Weg ins kolumbiani­sche Einkaufspa­radies Cúcuta eröffnet
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Foto: Franziska Bruder Wir machen es mit Liebe: Das dazugehöri­ge Weißbrot ist in Caracas nur noch in kleinen Restbestän­den vorhanden, den Geist Amerikas gibt es noch in rauen Mengen.
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