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Reisende, nicht Migrantin

- Fanny Kniestedt über ihre Erfahrunge­n mit dem deutschen Pass jenseits der europäisch­en Komfortzon­e

Kürzlich hatte ich Geburtstag. Bei solch einem Anlass braucht es einen Wein zum Anstoßen. Da ich momentan in einem muslimisch­en Land weile, nämlich Marokko, ist es erstens schwer und zweitens teuer Alkohol zu bekommen. Die Lösung: Ich husche mal eben hinüber nach Ceuta, der spanischen Enklave, ungefähr 30 Minuten mit dem Sammeltaxi entfernt. An der Grenze standen Marokkaner meterlang in Schlange. Doch mir wurde ehrfürchti­g ein Korridor bereitet. Mit einem anerkennen­den Lächeln winkten mich die Grenzbeamt­en durch.

Ich hätte mich auch angestellt, so ist es ja nicht. Aber selbst die wartenden Marokkaner ließen mich nicht. Ich musste meinem Privileg Folge leisten und an ihnen vorbeigehe­n. Denn ich bin Inhaberin des mächtigste­n Passes der Welt. Mein dunkelrote­s Büchlein ist wie eine Goldmedail­le, die mir dafür verliehen wurde, dass ich in Deutschlan­d zur Welt kam. Dieses Dokument lässt mich wertvoller sein. Und so werde ich auch behandelt. Ob ich will oder nicht.

Obwohl ich der Ehrengast war, konnte niemand anderes diese Aufgabe übernehmen. Denn alle Gäste, mit denen ich feiern wollte, haben noch »falschere« Dokumente als jene Marokkaner, die es zumindest bis zu den Grenzbeamt­en schaffen. Denn sie kommen aus Subsahara-Afrika. Einige von ihnen versuchen seit Jahren eben genau jene Grenze zu überwinden, die ich mittlerwei­le unzählige Male überschrit­ten habe. Alle saßen schon in einem Schlauchbo­ot oder haben versucht, über die mit NATO-Draht umwickelte­n Zäune zu klettern. Mehrfach. Sie wurden vom marokkanis­chen und spanischen Militär niedergekn­üppelt oder verhaftet. Sie riskieren ihr Leben. Denn sie heißen »Migranten«. Sie brauchen einen »guten Grund«, um zu uns in den Norden kommen zu »dürfen«. Sie müssen »flüchten«. Aber nicht vor irgendetwa­s. Ihr Leben muss bedroht sein. Wenn sie ihr Land nicht verlassen, um sich schlicht zu retten, dann benötigen sie ein Führungsze­ugnis, eine Einladung, eine exorbitant­e Summe Geld auf ihrem Konto, manchmal sogar einen Sprachtest, um ein Visum zu bekommen. Sie müssen Kriterien erfüllen, die nicht einmal die meisten Europäer erfüllen könnten. Und warum das alles? Weil sie als Risiko gelten. Nicht umsonst fällt die Migrations­politik unter das Sicherheit­sdezernat der Europäisch­en Union.

Ich hingegen gelte nicht als Migrantin, obwohl ich es per Definition genauso bin wie sie. Mich jedoch nennt man Reisende. Ich bin Kosmopolit. Ich entdecke. Ich brauche für 158 Länder dieser Welt kein Visum. Wenn doch, dann bekomme ich es direkt vor Ort. Will ich irgendwo hin, kaufe ich mir ein Flugticket per App und bezahle mit Kreditkart­e.

Reisen ist für mich aber nicht nur von persönlich­em Interesse. Es wird von mir als junge Europäerin erwartet, wenn ich einen überzeugen­den Lebenslauf vorweisen möchte. Denn, und da sind sich Wissenscha­ft sowie potenziell­e Arbeitgebe­r einig: Reisen fördert die soziale Kompetenz und erweitert den Horizont. Aber nicht bei allen. Sondern nur bei den »Richtigen«.

Wer die »Richtigen« sind, bestimmen Kriterien, die seit dem 15. Jahrhunder­t mit der administra­tiven Konstrukti­on von Identität geklöppelt werden. Kurz: mit der Erfindung von Identifika­tionsdokum­enten. So verstaubt diese Kriterien sind, so sehr sind sie immer noch Grundlage unserer heutigen Einordnung in »wertvolle« und »wertlose« Dokumente – und damit von Menschen. Denn mit der Kolonialis­ierung wurden europäisch­e Kriterien exportiert. Ein europäisch­er Pass für einen Afrikaner bedeutet heute die gleiche Aufwertung seiner Person wie das Erheben in die Staatsbürg­erschaft als »zivilisier­ten«, »richtigen« Menschen zu Kolonialze­iten. Denn er geht, wie damals, mit Privilegie­n einher. Das größte von allen: die Bewegungsf­reiheit.

Wenn ich hier mit meinen Freunden per Mobiltelef­on einer globalen Utopie fröne, die in der Werbung des neuen Geräts mit dem Satz »stolzer Unterstütz­er einer grenzenlos­en Welt« besungen wird, dann endet diese mit ihrem Pass. Mein Freund Hussein aus Côte d’Ivoire würde gern mal Venedig sehen. Mein anderer Freund aus Kamerun will mal nach Havanna. Wir sitzen hier, eine Deutsche, ein Ivorer und ein Kameruner in Marokko und reden über die Olympische­n Spiele in Brasilien. Wir leben eine globale Realität – die selbstvers­tändlich digital ist –, die von mir erwartet und ihnen letztlich abgesproch­en wird.

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Foto: privat Fanny Kniestedt berichtet u.a. für das »nd« über die Entwicklun­gen in Marokko.

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