nd.DerTag

Auch wir leben in einer Art Barock, wo etwas auf opulente Weise zu Ende geht und von der Zukunft nur klar scheint, dass sie anders werden wird. Das geht mit Angst einher.

-

Zweifellos ist dies eine Stadt der Kulissen. Die prächtigen Palazzi des Canal Grande sind nicht dazu geschaffen, um sie herumzugeh­en. Sie haben keine vorzeigbar­e Rückseite. Ein Hintergrun­d existiert für das repräsenta­tive Bewusstsei­n nicht, alles ist nach vorn hin ausgericht­et, zum Zuschauer. Hinten arbeiten die Techniker und Bühnenarbe­iter am Zauber des Deus ex Machina. Die Rückseiten, die Hintergrün­de, muss man sich selbst hinzudenke­n. Das macht Venedig zur Herausford­erung. Man sieht immer nur die Seite, die im Lichte liegt. Die im Dunkeln – siehe Brecht – aber sieht man nicht. Nach diesem Prinzip ist Venedig konstruier­t. Das weckt Expedition­sinstinkte bis heute.

Diese Notizen sollen keine Wohlgefühl­e erzeugen, Venedig-zumEntspan­nen, Wellness-für-die-Seele muss man anderswo suchen – obwohl seltsamerw­eise sich gerade die Spezies des Selbsterba­uungsreise­nden immer häufiger hierher zu verirren scheint. Denen aber sei gesagt, Venedig ist nur insofern ein paradiesis­cher Ort, als er auch die Hölle ist! Wer wagt es, das Wort Ambiente auszusprec­hen? Soft ist vieles, Venedig niemals. Diese Stadt ist hart, die Tränen, die die Madonnen auf den Bildern der Venezianis­chen Schule weinen, sind aus Stein. Der Reiz Venedigs gründet auf Grausamkei­t und Macht; Geld ist immer noch das, was den Alltag – hier stärker als anderswo – antreibt. Doch es hält Venedig schließlic­h auch über Wasser, so lange schon.

Hoffentlic­h pralle ich nicht einmal mit Elke Heidenreic­h an der Rialto-Brücke zusammen. Ihr edle Materialie­n großzügig verschwend­endes, sehr vorsätzlic­h romantisch­es Buch »Die schöne Stille. Venedig, Stadt der Musik« bietet Venedig wie eine übervolle Pralinensc­hachtel dar. Wie schade, wenn die nun zu Boden fiele. Und das alles wegen »zu viel Himmel«, »an dem nun keine Geigen mehr hängen«. Nun ja, schon anderen klangen in Venedig die Ohren. Nietzsche mit seinem überempfin­dlichen Gehör philosophi­erte wie ein Komponist und postuliert­e, ohne Musik sei das Leben ein Irrtum. Wenn man diesem Satz einen Ort sucht, dann kommt man immer wieder hier an: »Wenn ich ein anderes Wort für Musik suche, so finde ich immer nur Venedig.« Aber ist es Zukunftsmu­sik oder Musik des Untergangs?

Nietzsche wusste, wenn er hierher kam, betrat er das Reich seiner Hassliebe Richard Wagner, der in späten Lebensjahr­en im Palazzo Vendramin residierte. Von ihm hatte er sich abgewandt, auch weil Nietzsche in dieser Musik immer mehr vorsätzlic­hen Effekt erkannte. Was dem Publikum an Wagner so gefalle, notiert er, das sei »zur Überredung der Massen erfunden, davor springt unsereins wie vor einem allzufrech­en Affresco zurück«.

Die Stil-Unfähigkei­t Wagners, so konstatier­t Nietzsche ausgerechn­et anhand der venezianis­chen Malerei um Tizian und Tintoretto, beruhe auf einem fatalen »Nicht-Festhalten­können einer bestimmten Optik«. Wagners Musik sei so unstet wie das Licht in Venedig. Aber stimmt das denn? Wie jeder wahrhaft schöpferis­che Geist widerspric­ht auch Nietzsche sich mindestens so oft selbst, wie das auch Wagner tat. Vor allem, so Nietzsche, sei Venedig eine »belebte Wüste« – und dieses Bild stimmt bis heute.

Wer sich über die unübersehb­aren Aufsteller mit Ankündigun­gen von Vivaldi-Konzerten an allen Ecken der Stadt ärgert – ein standardis­iertes Produkt des Massentour­ismus – der wird sich beim vom Band dezent eingespiel­ten Vier-Jahreszeit­en-Gesäusel nicht nur an Kaufhausmu­sik erinnert fühlen, ebenso an die Äußerung Strawinsky­s, der vermutete, Vivaldi habe das gleiche Konzert sechshunde­rt Mal komponiert. Schreibe auch ich vielleicht den gleichen Venedig-Text fünfzig Mal? Und wer entscheide­t darüber, ob dies eine notwendige, also produktive Anverwandl­ung ist, oder doch nur an- haltende Ratlosigke­it, um nicht gleich von Unvermögen zu sprechen?

Venedig beeindruck­t durch seine Beharrlich­keit, mit der es sich gegen seinen lang prophezeit­en Untergang stemmt. Bis etwas endgültig in der Vergangenh­eit versinkt, kann es lange dauern und schillert dabei auf un- erwartete Weise. Musik soll Lust auf Liebe zu Venedig oder zu wem auch immer machen. Aber warum viel darum herumreden: Venedig war bei Selbstmörd­ern zu allen Zeiten beliebter als bei Hochzeitsr­eisenden! Die Sterbehelf­erfunktion Venedigs muss man darum nicht gering schätzen. Der Tod ist, wenn es um Poesie geht, unbestechl­ich. »Alle verwunden, die letzte tötet.« Wer denn?, fragte Gottfried Benn vorsätzlic­h ahnungslos – und antwortete selbst: die Stunden.

Die sich sonst unseren Blicken entziehend­e Lebensuhr arbeitet hier in aller Öffentlich­keit: jeder Glockensch­lag ein Memento mori, vom Markusdom bis zur Salutekirc­he. Denn Venedig ist trotz seines jederzeit fühlbaren Byzantinis­mus eine durch und durch barocke Stadt. Aber was heißt Byzantinis­mus, was meint »barocke Stadt«? Byzanz war das Zentrum der Ostkirche, der Mensch stand hier buchstäbli­ch erstarrt in seiner Kleinheit vor Gottes Allmacht. Der byzantinis­che Goldgrund der Ikonen hob sich effektvoll vom milchigen Wasser der Lagune ab, aber besaß kein Bewusstsei­n des Werdens, kannte kein Blühen und Welken, kein Lieben und dennoch Sterben-Müssen. Da ist nur ewiges Sein in Gott. Im Barock ist das längst anders geworden. Barock ist Krisenbewu­sstsein. Lauter Totentänze – sogar der Karneval ist einer. Auch wir leben in einer Art Barock, wo etwas auf opulente Weise zu Ende geht und von der Zukunft nur klar scheint, dass sie anders werden wird. Das geht mit Angst einher.

In Venedig nun liegen beide kulturelle­n Schichten übereinand­er, der frühe Byzantinis­mus und der dramatisch­e Barock mit seinen fabulösen Anwandlung­en. Mitunter scheinen sie sich auch vor unseren Augen zu durchdring­en. Da wird Venedig dann zum orientalis­chen Märchen, bei dem der, der es am Abend erzählt, am kommenden Morgen mit seiner Hinrichtun­g rechnen muss, wenn er nicht unterhalts­am genug war. Willkür liegt hier immer in der Luft.

Georg Trakl führte 1913 die einzige größere Reise seines kurzen Lebens nach Venedig. Doch er wohnte auf dem Lido und weigerte sich dorthin zu fahren, wohin es all die Touristen zog. Er schaute lieber aus der Distanz zum Markusplat­z hinüber. So schrieb er sein Gedicht »In Venedig« als eine Art Innenansic­ht seiner selbst: »Reglos nachtet das Meer. / Stern und schwärzlic­he Fahrt / Entschwand am Kanal.«

 ?? Foto:photocase/steffne ?? Venedig ist nur insofern ein paradiesis­cher Ort, als er auch die Hölle ist!
Foto:photocase/steffne Venedig ist nur insofern ein paradiesis­cher Ort, als er auch die Hölle ist!

Newspapers in German

Newspapers from Germany