Globaler Süden trifft Globalen Norden
In Montreal startet das Weltsozialforum / Kanadas Visapolitik schließt zahlreiche Aktivisten aus
Zum ersten Mal findet ein Weltsozialforum im Globalen Norden statt – doch nicht alle Aktivisten können nach Montreal reisen. Grund: die restriktive Visapolitik der kanadischen Regierung.
Francisco Marí hatte es schon im Vorfeld des Weltsozialforums befürchtet. Nun sieht sich der Mann vom evangelischen Entwicklungsdienst »Brot für die Welt« bestätigt: Nicht alle Aktivisten werden es zu dem am Dienstag in Montreal startenden Treffen der globalen Alternativen schaffen. Auch Hugo Braun vom Netzwerk Attac beklagt, dass »zahlreiche Persönlichkeiten aus Afrika und Asien von der Teilnahme ausgeschlossen« sind – wegen der restriktiven Visapolitik der kanadischen Regierung.
Dennoch sollen, das ist auch Brauns Hoffnung, »neue Impulse für den Kampf gegen die Armut und für mehr demokratische und soziale Rechte« vom diesjährigen Weltsozialforum ausgehen. Mit Kanada wurde erstmals ein entwickeltes Industrieland als Austragungsort ausgesucht. Montreal sei »gut geeignet für den Beweis, dass Armut nicht länger auf den Globalen Süden beschränkt ist«, sagt Braun.
Den Auftakt wird am Dienstag in Montreal eine große Demonstration machen. Insgesamt werden rund 50 000 Aktivisten erwartet, sie repräsentieren etwa 5000 soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen aus über 110 Ländern. Über das Programm des Weltsozialforums hinaus gibt es in diesem Jahr erstmals sieben Konferenzen, die sich mit Themen wie soziale Ungleichheit, Flucht, Steueroasen, Klimagerechtigkeit und Bildung befassen.
»Der Erfolg des Weltsozialforums ist bei allem Engagement umstritten«, findet die Deutsche Pres- se-Agentur. »Vor allem zur Zeit der Finanzkrise verkam ein Teil der Initiativen zu einer allzu stark ideologisch gefärbten Kapitalismuskritik.« Ganz anders die Bewertung von Marí, der den Eindruck, dass der antikapitalistische Biss verloren gegangen sei, als falsch zurückweist.
Das heißt keineswegs, dass das Forum nicht auch mit Problemen zu kämpfen hat. Tadzio Müller von der Rosa-LuxemburgStiftung sagt, dem Treffen sei »die globalisierungskritische Bewegung abhanden gekommen«, die der Resonanzraum der Konferenzen darstellte. Und das sei auch nicht der einzige kritische Punkt. Aber dennoch, so Müller: »Wenn es das Weltsozialforum nicht gäbe, müssten wir es erfinden.«
Ähnlich sieht es Luca Visentini, Generalsekretär des europäischen Gewerkschaftsverbandes ETUC. Das Treffen in Montreal sei eine Gelegenheit, über Alternativen nicht nur zu diskutieren, sondern ihnen auch ein öffentliches Echo zu verschaffen, sagte er dem »nd«. Die Lage von Beschäftigten weltweit gebe dazu drängenden Anlass. Vor allem, da trotz der Finanzkrise seit 2008 die »zerstörende neoliberale Logik immer noch ihre Kraft entfaltet«. Visentini wirbt unter anderem für einen sozial abgesicherten Wandel hin zu nachhaltiger Entwicklung. In Montreal wolle man diesem Ziel mehr Nachdruck verleihen.
An diesem Dienstag beginnt im kanadischen Montréal das Weltsozialforum (WSF). Tausende Aktivist*innen aus aller Welt werden sich dort versammeln, um den Reden der Bewegungsstars zu lauschen und gemeinsam Strategien zu entwickeln, im gegenwärtigen Chaos der organischen Krise die Dinge doch noch irgendwie nach links zu verschieben oder – mit ein bisschen mehr Pathos gesprochen – die schon seit längerem möglichen anderen Welten endlich Realität werden zu lassen.
Weltsozialforum, das klingt nach »Bewegung der Bewegungen« und Manu Chao, nach Linksregierung in Brasilien und Bürgerhaushalt in Porto Alegre, nach Jointgeruch und veganer Vokü. Es scheint von einer Institution die Rede zu sein, die in einem anderen Kampfzyklus entstand, und die deswegen heute nicht mehr zeitgemäß ist. Die Kritiken sind schon lange bekannt, und seitdem sie zuerst artikuliert wurden, hat sich kaum etwas verändert.
Erstens ist dem Forum die globalisierungskritische Bewegung abhanden gekommen, die den globalen Resonanzraum des WSF darstellte. Gleichzeitig war die Kitt zwischen den lokalen und regionalen Aktivist*innen einerseits und den globalen NGO-Jetsetter*innen andererseits. Zweitens: Dem WSF ist der offensichtliche Gegner abhanden gekommen, ein hegemonialer Neoliberalismus ebenso wie die (scheinbar) stark aufgestellte US-amerikanische Hegemonie im internationalen System. Drittens: Die »neuen« linken Bewegungen, die Arabellionen, Platzbesetzungen und viele andere, die sich im Zuge der Krise ab 2008 entwickelt haben, sehen das WSF nicht als ihre Institution, sind dort kaum vertreten. Viertens: Ein Weltsozialforum im globalen Norden, wie es dieses Jahr geplant ist, droht ein wenig zum schlechten Scherz zu verkommen, weil es für Aktivist*innen aus dem globalen Süden natürlich ungleich schwieriger ist, dort an Visa zu kommen.
Die Liste könnte immer weiter fortgesetzt werden, an berechtigten Kritiken des Forums mangelt es nicht. Und doch findet es immer wieder statt. Und doch wird es jedes Mal wieder von großen Organisatio- nen, wie zum Beispiel meiner Arbeitgeberin, mitfinanziert. Und doch kommen jedes Mal tausende und abertausende Teilnehmer*innen, vor allem – aber nicht nur – aus der Region, in der es stattfindet, sondern aus knapp 100 Ländern »aus der ganzen Welt«. Warum?
Ganz einfach: Wenn es das Weltsozialforum nicht gäbe, müssten wir es erfinden. Trotz all seiner Schwächen wäre es jetzt fast schon ein politisches Verbrechen an der globalen Linken, diese mittlerweile etablierte Institution einzustampfen und durch nichts zu ersetzen.
Die derzeitige Weltlage, soviel ist offensichtlich, gibt kaum Anlass für Optimismus. Neue Kriege drohen, vielleicht sogar ein neuer großer Krieg. Das derzeitige »Interregnum«, die Krisenphase, in der das Alte noch nicht ganz gestorben ist und das Neue noch nicht ganz geboren, kann sich schnell wenden: Plötzlich gibt es globale Bewegungsdynamiken, eröffnen sich nach links Handlungsmöglichkeiten, ob in der Klima- oder Migrations-, in der Kriegs- und/oder Friedensfrage. Plötzlich schreien alle nach globaler, koordinierter Aktion sozialer Bewegungen – und erinnern sich vielleicht an die größte global koordinierte Politdemonstration, die jemals stattgefunden hat: die Antikriegsmärsche vom 15. Februar 2003. Die verhinderten den Irak-Krieg natürlich nicht, waren aber doch eine (relativ) machtvolle Antwort auf den Wahnsinn der Gegenseite.
Und dann stellt sich ganz konkret die Frage: Wer redet wo mit wem, um globale linke Antworten auf globale Fragen und Prozesse zu geben? Für uns relativ ressourcenarme Linke war es schon immer schwer, Globalität herzustellen, das heißt politische Effekte auf der globalen Ebene zu produzieren. Das WSF ist eine Antwort auf die Frage, wie wir selbst global relevant werden können, wie wir selbst unsere Daten, Orte und Themen setzen können. Es mag nicht die beste Antwort auf diese Frage sein. Aber bisher gibt es keine bessere, bisher ist das WSF mit all seinen Schwächen die stabilste globale Institution, über die das linke Mosaik verfügt. Wie es sich dieses Jahr entwickelt, werden wir beobachten. Das Forum mag sich überlebt haben. Es mag sogar tot sein. Dennoch muss es heißen: Lang lebe das Forum.