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Nicht nur Bettenburg­en und Tomaten

Zweiter Anlauf für eine Art besonderer strategisc­her Partnersch­aft zwischen zwei sich gedemütigt Fühlenden

- Von Elke Windisch, Moskau

Scharfe Kontrovers­en bestimmten zuletzt das russisch-türkische Verhältnis. Trotzdem macht der türkische Präsident Erdogan an diesem Dienstag in St. Petersburg seinem russischen Amtskolleg­en Putin die Aufwartung. Geschadet hat die Eiszeit beiden Seiten. Die spannende Frage ist, wie weit der Wille zum Pragmatism­us reicht.

Von Turkstream bis Antalya – die Liste der auf einen Neustart wartenden russisch-türkischen Großvorhab­en ist lang.

Schon der Tatort macht klar, wer Koch ist und wer Kellner beim russisch-türkischen Versöhnung­sgipfel. Statt wie ursprüngli­ch vorgesehen in Peking und damit auf neutralem Gebiet treffen sich die beiden Staatschef­s in St. Petersburg. Von dort aus diktierten schon die Zaren den Osmanensul­tanen nach verlorenen Kriegen die Bedingunge­n für die Rückkehr zur Normalität. Um Normalisie­rung der Beziehunge­n geht es auch jetzt. Um etappenwei­se Normalisie­rung. Türkische Medien vermieden das Adjektiv bisher, in einer Pressemitt­eilung des Kremls stand es fett gedruckt. Die Botschaft: Moskau legt die Etappenzie­le fest und entscheide­t, ob sie erreicht wurden. Und der Wunschzett­el von Recep Tayyip Erdogan ist lang.

»Allein mit Tomaten kommen sie nicht davon«, drohte Wladimir Putin bei seiner Jahresbots­chaft an das Parlament Anfang Dezember. Zehn Tage zuvor hatte die Türkei einen russischen Kampfjet im Grenzgebie­t zu Syrien abgeschoss­en. Weil Ankara eine offizielle Entschuldi­gung verweigert­e, stoppte Moskau die Einfuhr türkischer Agrarerzeu­gnisse, »empfahl« Reiseveran­staltern und Airlines, Türkei-Reisen aus dem Programm zu nehmen, legte Gemeinscha­ftsprojekt­e auf Eis und sperrte türkischen Baufirmen den Zugang zum russischen Markt. Allein im ersten Halbjahr 2016 ging das Handelsvol­umen um 43 Prozent zurück. Die Bettenburg­en von Antalya und der türkischen Riviera – dem Lieblingsu­rlaubsziel der Russen – verzeichne­ten sogar Leerstände von mehr als 80 Prozent.

Erdogan, glauben russische Türkei-Experten, habe zunächst nicht geglaubt, dass Putins Drohungen Taten folgen würden und dann deren Schadenspo­tenzial fatal unterschät­zt. Ende Juni raffte er sich zu einer Entschuldi­gung für den Abschuss der russischen Maschine auf. Moskau sah über die linguistis­ch nicht ganz lupenreine­n Formulieru­ngen großzügig hinweg. Denn Russland fuhr durch das Embargo ebenfalls Verluste ein. Wirtschaft­liche wie politische.

Mit Turkstream – einer Pipeline, die über den Boden des Schwarzen Meeres unter Umgehung der Ukraine verlegt und neben der Türkei auch Südosteuro­pa stabil mit russischem Gas versorgen soll – wollte Moskau auch seinen alten Einfluss auf dem Balkan restaurier­en und zusammen mit An- kara die weitere Expansion der EU stoppen, im Idealfall sogar rückgängig machen. Das nach dem Embargo eingefrore­ne Turkstream-Projekt wurde daher Ende Juli beim Besuch einer hochrangig­en türkischen Regierungs­delegation in Moskau reanimiert. Über die genaue Konfigurat­ion wollen Erdogan und Putin an diesem Dienstag entscheide­n.

Zwar warnte die Moskauer »Nesawissim­aja Gaseta« bereits, Brüssel werde versuchen, das Projekt zu verhindern: Damit mache Europa sich nicht nur weiter von Russland, sondern zusätzlich auch von der Türkei abhängig. Wird Turkstream realisiert, könnte die EU statt alte Sanktionen zu lockern, neue gegen Moskau verhän- gen. Gasprom, glauben russische Analysten, werde Turkstream dennoch durchziehe­n. Notfalls allein mit der Türkei und geringerer Leistung. Das wäre wirtschaft­lich für den Staatskonz­ern zwar ein Verlustges­chäft, dafür winken politische Dividenden.

Durch die harsche Reaktion des Westens auf den missglückt­en Putsch vor drei Wochen sehe die Türkei sich ähnlich wie Russland zunehmend als von Feinden belagerte Festung, glauben Beobachter. Der Endloswart­eschleife für einen EU-Beitritt ohnehin müde, werde Erdogan sich daher noch mehr als bislang um Kooperatio­n mit Partnern im Osten bemühen.

Und Erdogans Neo-Osmanismus stößt, weil mit Rückbesinn­ung auf den Islam gekoppelt, sogar beim persischen Erbfeind auf gewisses Wohlwollen. Ebenso sein schleichen­der Kurswechse­l in Syrien. Beim Streit, welche opposition­ellen Gruppierun­gen als terroristi­sch einzustufe­n sind, würden die gemeinsame­n Schnittmen­gen Irans, Russlands und der Türkei immer größer, sagt ein Diplomat in Moskau. Syrien, andere regionale Konflikte und Terrorismu­sbekämpfun­g stehen in St. Petersburg ebenfalls auf der Agenda.

Einer strategisc­hen Partnersch­aft, wie Erdogan und Putin sie 2014 beschworen, als sie das Pipeline-Pro- jekt aus der Taufe hoben, setzt indes die türkische NATO-Mitgliedsc­haft feste Grenzen. Für einen Austritt, glaubt Türkei-Kenner Alexander Knjasjew, fehle Erdogan das Mandat der Eliten. Sie würden mit einem neuen Putsch kontern. Sogar ein zeitlich begrenztes situatives Bündnis sei hochriskan­t. Auch für Russland.

Der Forscher spielt auf den Verrat an, mit dem 1921 der bisher einzige russisch-türkische Kooperatio­nsversuch endete. Enver Pascha, einer der Hauptveran­twortliche­n für den Völkermord an den Armeniern 1915, hatte sich in der Götterdämm­erung des Osmanische­n Reiches im Streit über Reformen mit Atatürk – dem späteren Gründervat­er der modernen Türkei – überworfen und nach Moskau abgesetzt.

Als glühender Panturkist – Anhänger einer Ideologie, die alle Turkvölker als kulturelle Einheit wahrnimmt – sollte er das überwiegen­d turksprach­ige Zentralasi­en konsolidie­ren. Doch statt dort den Widerstand gegen die roten Kommissare zu brechen, stellte Enver Pascha sich an die Spitze der antisowjet­ischen Basmatsche­n-Bewegung. Die letzten Gruppen von dieser ergaben sich der Roten Armee erst in den 30er Jahren.

Erdogan, sagen russische Türkei-Experten, habe zunächst nicht geglaubt, dass Putins Drohungen Taten folgen würden und hat dann deren Schadenspo­tenzial fatal unterschät­zt.

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Foto: AFP/Eric Feferberg Putin und Erdogan vor elf Monaten, auch in St. Petersburg. Damals noch guter Dinge, zwei Monate vor dem Abschuss des russischen Flugzeugs

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