Kochende Wut bei 42 Grad: Libyen im 6. Jahr der Revolution
Die Einheitsregierung in Tripolis hat weder die Probleme des Landes im Griff noch das Vertrauen der Bevölkerung
Sollte der Kampf gegen den IS in Sirte gewonnen werden, sind die Probleme in Libyen kaum kleiner. Denn Milizen und Mafia bleiben. Die Schlacht gegen den Islamischen Staat (IS) in der libyschen Hafenstadt Sirte scheint in die letzte Phase zu gehen. Nachdem US-Kampfflugzeuge am Wochenende zum zweiten Mal innerhalb einer Woche von ISScharfschützen besetzte Häuser bombardierten, trafen sich die Kommandeure der angreifenden Milizen aus Misrata, um die Einnahme des Kongresscenters »Ouagadougou« zu koordinieren, auf dem seit vorigem Jahr eine riesige Flagge des IS weht.
Obwohl sich die Extremisten in eine etwa drei mal vier Kilometer große Enklave zurückgezogen haben – ehemals kontrollierten sie 140 Kilometer Küste, ist die Stimmung bei den Männern aus Misrata gedämpft.
360 Tote und fast 2000 Verletzte haben sie seit Beginn der Kämpfe in der verfeindeten Nachbarstadt zu beklagen, in der Muammar al-Gaddafi einst die Idee einer afrikanischen Union ausgerufen hatte. Gefangene machen sie nach zahlreichen Selbstmordattentaten nicht mehr.
Hilfe kommt wie 2011 zwar aus der Luft und durch britische Militärberater, aber in dem überfüllten Krankenhaus fehlt es an Verbandszeug und Medikamenten. Operier wird auf den verstopften Gängen.
»Ich kann ja verstehen, dass man uns keine Waffen schickt, weil die Einheitsregierung noch nicht vom Parlament bestätigt wurde und daher nicht offiziell um Hilfe bitten kann. Aber warum weigert man sich in Europa, Schwerverwundete zu behandeln«, fragt Jamal Fortia, der rund hundert kaum volljährige Kämpfer an der östlichen Frontlinie anführt.
Auch in den Ministerien der Einheitsregierung von Premier Fayez Serraj in Tripolis beobachtet man den Frontverlauf im fünf Autostunden entfernten Sirte mit Sorge. Sollten die offiziell mit Serraj verbündeten Misrata-Milizen weitere hohe Verluste erleiden, könnte die islamistische Szene versuchen, die Macht an sich zu reißen. Der oberste Mufti Sadiq Ghariani, der den IS-nahen Shura-Rat in Bengasi und Derna mehrmals als »die Helden der Revolution« bezeichnete, will nun jeden Freitag zu Großdemonstrationen gegen Serraj und die Misratis mobilisieren, weil sie Libyen ausländischen Mächten überließen, wie er argumentiert.
Kommandeur Jamal Fortia will daher nach dem Sieg in Sirte nach Tripolis weiterziehen, »um dort mit all den Extremisten und korrupten Beamten aufzuräumen«. Auch in Tripolis ist man der unfähigen Regierung überdrüssig, die in drei Monaten weder die bis zu 14-stündigen täglichen Stromausfälle noch die Geldknappheit in den Griff bekam.
Doch vor den Misratis fürchten sich viele genauso wie vor den Gangs, die Tripolis unter sich aufgeteilt haben und mit Entführungen und Straßensperren die Dreimillionenstadt terrorisieren. »Die Revolutionäre aus Misrata haben mit dem Ausschluss der ehemaligen Gaddafi-Anhänger vom öffentlichen Leben Libyens doch die Stämme in Sirte erst in die Arme des IS getrieben«, sagt ein hoher Beamter im Bürgermeisteramt am Algerien-Platz. »Mit dem Sieg über den IS in Sirte fangen die Probleme daher erst an.«
Jede Nacht legen von den Stränden der libyschen Hauptstadt Schlauchboote nach Italien ab, am nächsten Tag zeugen die angeschwemmten Leichen von der Gleichgültigkeit der Menschenschmuggler.
»In den Straßen von Tripolis riskiere ich auch mein Leben; sobald ich das Geld zusammenhabe, nehme ich ein Boot« sagt ein Arbeiter aus Ghana an der »Whisky street«, direkt am Strand. Karas Salafistenmiliz greift die Gegend immer wieder an, um den illegalen Verkauf von Alkohol zu unterbinden. Die »Rada«-Truppe ist die wohl am besten organisierte Miliz in Tripolis und dennoch chancenlos gegen die lokalen Mafiabanden, die ihre Geschäftsmodelle dem jeweiligen Machtvakuum anpassen.
Nach Evakuierung der meisten Ausländer haben die Kriminellen nun wohlhabende Familien im Visier. Bankangestellte geben nach Gewaltandrohung oder für viel Geld die Kontodaten reicher Kunden heraus, an deren Fersen sich dann Gangs heften, für entführte Kinder werden bis zu einer halben Million Euro gezahlt.
Trotz täglicher Staus und scheinbar normalen Straßenbilds: Kaum jemand arbeitet im 6. Revolutionsjahr. Entweder fließt sowieso kein Lohn oder Frauen und Kinder müssen zu ihrer Sicherheit zur Schule oder zum Einkaufen gefahren werden.
Vor der Arab Bank am Märtyrerplatz stehen mehr als 100 Kunden. Die Benzingeneratoren der Nachbarschaft brummen, Strom und Wasserausfall bei 42 Grad. An diesem Donnerstagmittag droht der Unmut der Bankkunden in Gewalt umzu- schlagen. Nur noch 200 Dinar können im Monat abgehoben werden. Nachdem der libysche Dinar 70 Prozent an Wert verloren hat, bedeutet dies für etliche Familien den Ruin.
Die Bankangestellten haben sich hinter den Gittern des Haupteingangs verschanzt, weil ihnen das Bargeld ausgegangen ist. Dass der Tresor trotz der medienwirksam eingeflogenen neuen Geldscheine leer sein soll, wollen die ungeduldigen Familienväter nicht glauben und versuchen, das Gitter herauszureißen. »Die Einheitsregierung soll gehen«, schreit Ibrahim Ali. »Serraj wurde von der UNO geschickt und kann nicht einmal das Geld verteilen, das aus England geliefert wurde.« Der 43-jährige Ölingenieur hat noch 20 Dinar in der Tasche und die Hochzeit seiner Tochter steht bevor.
Die Einheitsregierung von Premier Serraj, der noch immer der Segen des Parlaments fehlt, hat die Menge vor der Arab Bank schon lange abgeschrieben, auch wenn der Regierungschef immer wieder die Bürger vor laufenden Kameras Hände schüttelnd um Geduld bittet, wie diesmal gerade am Algerien-Platz.
»Was bleibt uns übrig, als abzuwarten, was hier weiter passiert«, meint Ali trocken.