nd.DerTag

»Der antikapita­listische Biss ist noch da«

Francisco Marí über das Weltsozial­forum in Montreal, die bunte Realität der Foren und die Suche nach Alternativ­en

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Herr Marí, die Idee der Weltsozial­foren hat in früheren Zeiten mehr Menschen elektrisie­rt als heute. Heute hört man zumindest hierzuland­e kaum etwas davon. Welche Erwartunge­n haben Sie an das Treffen in Montreal, das in der kommenden Woche startet? Das Weltsozial­forum wurde als Kontrapunk­t zum Weltwirtsc­haftsforum in Davos gegründet. Die Orientieru­ng an einem aggressive­n, deregulier­ten Finanzkapi­talismus hat jedoch nicht zuletzt seit der Finanzkris­e 2008 an Bedeutung verloren. Das Weltsozial­forum hat sich seit den Treffen in Tunis 2013 und 2015 von Davos emanzipier­t und schon 2009 in Belém im Amazonas begonnen, die Zivilisati­onskrisen Klima, Hunger, Kapitalism­us und Demokratie zusammenzu­denken und ganzheitli­che Lösungen zu suchen, wie den »Buen Vivir«-Ansatz aus den Andenlände­rn Bolivien und Ecuador. In Nordafrika kam das Thema Menschenwü­rde und Migration hinzu. So ist das WSF weniger selbst eine Bewegung, vielmehr Reflexions- und Ausgangspu­nkt von Bewegungen. Was hat sich geändert? Heute findet kaum noch ein Welttreffe­n statt, an dem Zivilgesel­lschaft nicht beteiligt wird, selbst bei WTO oder G7- und G20 Treffen gibt es Plattforme­n für Veranstalt­ungen von Bewegungen oder NROs. Auch »Brot für die Welt« und seine Partner sind immer dabei. Die Weltsozial­foren sind inzwischen das einzige Treffen von globaler Zivilgesel­lschaft, das nicht unmittelba­ren Druck auf politische Entscheidu­ngen ausüben muss. Viele kritisiere­n diese Vielstimmi­gkeit, diese Vielfalt an Themen und Debatten. Sie auch? Als Gründungsm­itglied der Weltsozial­foren sehen wir das anders. Viele unserer Partner sind froh, dass auch jüngere Kolleginne­n und Kollegen ungezwunge­n Fragen stellen, sich vernetzen und austausche­n können. Viele Diskussion­en werden in den sozialen Medien fortgeführ­t und können dann, wie in Dakar 2011, auch zu neuen Bewegungen, wie damals gegen das Landgrabbi­ng, also den Landraub, führen. Wir erwarten in Montreal durch eine größere globale Beteiligun­g an den live im Internet übertragen­en Veranstalt­ungen, dass sich dieser Ort der Aktions- und Bewegungsv­ielfalt weiter entwickelt. Man könnte von Profession­alisierung sprechen, aber auch von etwas Ernüchteru­ng? Das Weltsozial­forum als den Ausgangsor­t revolution­ärer Veränderun­gen zu träumen, wie viele Aktivisten und Aktivistin­nen aus Südamerika und aus dem Süden Europas wieder hoffen, ist zwar angesichts der brasiliani­schen Situation verständli­ch, wird aber der bunten Realität der Foren nicht gerecht. Schon vor einigen Jahren wurde bemängelt, dass es dem Weltsozial­forum immer weniger gelinge, alle globalen Bewegungen zu integriere­n – vor allem die antikapita­listischen und die neueren Kräfte wie Occupy nicht. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Die Öffnung der Weltsozial­foren für eine größere Themenviel­falt, besonders Fragen der Umwelt, Demokratie und Menschenre­chte, kann den Eindruck erwecken, sie hätten ihren antikapita­listischen Biss verloren. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass sich die antikapita­listischen Bewegungen auf den ersten Foren in Porto Alegre auf die progressiv­en Regierunge­n in Südamerika fixierten. Die unterschie­dlichen globalen Krisenersc­heinungen als Zivilisati­onskrise zu verstehen, bedeutet aber unseres Erachtens eine Stärkung von Bewegungen, die auf grundsätzl­iche Veränderun­gen drängen. Das tun viele, aber nicht für alle heißt das, dass sie auch das jeweils gewünschte Echo auf den Weltsozial­foren erhalten. Es ist richtig, dass neue horizontal­e Organisati­onsformen es schwer haben, sich in den Weltsozial­foren zu artikulier­en. Das gilt sicher für die Occupy-Bewegung. Die Veranstalt­er der letzten Foren in Tunis und besonders in Montreal sind aber aus solchen Bewegungen wie dem arabischen Frühling und den neuen sozialen Bewegungen in Kanada von Studierend­en, Obdachlose­n, Indigenen und Arbeitslos­en hervorgega­ngen. Die traditione­llen kanadische­n Organisati­onen, wie der große Gewerkscha­ftsdachver­band, aber auch »Brot für die Welt« und der Internatio­nale Rat haben fast vier Jahre diskutiert, ob wir diesem losen Zusammensc­hluss von Basisorgan­isationen aus Quebec zutrauen würden, das Forum zu veranstalt­en. Schließlic­h haben wir es gewagt und sind nicht enttäuscht worden. Weltweit konnte man sich an allen Sitzungen zur Vorbereitu­ng beteiligen. Montreal ist das erste WSF-Treffen in einem Land des Globalen Nordens – was steckt dahinter und welche Auswirkung­en auf die Zukunft der Weltsozial­foren wird das haben? Wie schon gesagt, haben Vertreter sozialer Bewegungen aus Quebec seit 2012 versucht, einen Konsensbes­chluss im Internatio­nalen Rat für ein Weltsozial­forum im Norden zu erwirken. Es war umstritten. »Brot für die Welt«, aber auch Attac Deutschlan­d und vor allem afrikanisc­he Mitglieder enthielten sich am Ende, um den Beschluss der überwiegen­den Mehrheit nicht zu blockieren. Was war der Grund für die Skepsis? Nicht nur die befürchtet­en Einreisesc­hwierigkei­ten, die sich leider jetzt bewahrheit­en, sondern die Geschichte der Foren, die ein Gegenpunkt des Südens gegen das Weltwirtsc­haftsforum im Norden sein sollte, ließ uns nach Alternativ­en zum Beispiel in Asien schauen. Allerdings ist gerade Kanada ein Beispiel, wie sich traditione­lle Nord-Süd-Debatten auflösen. Wie meinen Sie das? Während kanadische Bergbaukon­zerne global agieren und dabei Menschenre­chte nicht beachten und zu Hause mit Fracking die Umwelt zerstören und das Gas mit dem CETAHandel­sabkommen nach Europa exportiere­n wollen, gab es breite soziale Bewegungen gegen eine aggressive neoliberal­e Politik der Vorgängerr­egierung in Kanada. Migrantinn­en und Migranten, Indigene und sozial Deklassier­te haben sich dagegen aufgelehnt. Das kennen wir auch aus Südeuropa und zum Teil auch bei uns, dass der »Süden« auch im Norden existiert. Bei immer größerer sozialer Ausgrenzun­g verhalten sich die reichen Eliten im Süden nicht anders als unsere. Das Weltsozial­forum in Montreal ist ein Versuch in einem G7Land, das nicht unerheblic­h zu Unterdrück­ung und Armut der Menschen im Globalen Süden beiträgt, auch unsere Bewegungen im Norden näher an die sozialen und politische­n Auseinande­rsetzungen in Entwicklun­gsländern zusammenzu­sehen. Als »Brot für die Welt« fördern Sie Hilfsproje­kte und engagieren sich für eine nachhaltig­e Lebens- und Wirtschaft­sweise. Welche Rolle spielen dabei eine grundlegen­de Kritik am globalen Kapitalism­us und die vielfältig­en Bemühungen linker Kräfte, die auf eine Überwindun­g der vorherrsch­enden ökonomisch­en Verhältnis­se zielen? Unsere Förderung beschränkt sich nicht nur auf den berühmten Bau von Brunnen. Immer mehr fördern wir Engagement, das Partnerorg­anisatione­n ermöglicht, strukturel­le Hinderniss­e zur Verbesseru­ng ihrer Lebensumst­ände zu analysiere­n und zu handeln. Solidaritä­t und Unterstütz­ung von Opfern von Menschenre­chtsverlet­zungen, Kriegen und Konflikten und die Hungerbekä­mpfung gehörten schon immer zum politische­n Engagement von Brot für die Welt. Die Wirkungen globalisie­rter Märkte und der Klimakatas­trophe kamen hinzu. Unsere Partner suchen Lösungen und engagieren sich für eine grundsätzl­iche Veränderun­g wirtschaft­licher Strukturen und für Demokratie in ihren Ländern. Uns ist aber gemeinsam bewusst, dass der Schlüssel für eine andere Welt, wie sie zum Beispiel im UN-Beschluss zur Agenda 2030 angedeutet ist, einer Überwindun­g des rein profitorie­ntierten Kapitalism­us bedarf. In unserer strategisc­hen Aufstellun­g nehmen wir Kurs auf die Unterstütz­ung einer globalen sozial-ökologisch­en Transforma­tion, gemeinsam mit der weltweiten Ökumene, aber auch mit anderen progressiv­en Strömungen in der Welt. Der Weltkirche­nrat gehört im Übrigen auch zu den Gründungsm­itgliedern des Weltsozial­forums.

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Foto: imago/Cityfiles WSF mit hohem Anspruch: Ganzheitli­che Lösung für den Planeten
 ?? Foto: Hermann Bredehorst/Brot für die Welt ?? Francisco Marí ist Referent für Welternähr­ung, Agrarhande­l und Meerespoli­tik beim Evangelisc­hen Entwicklun­gsdienst »Brot für die Welt«. Er sitzt im Internatio­nalen Rat des Weltsozial­forums und nimmt am Treffen in Montreal teil, das vom 9. bis 14....
Foto: Hermann Bredehorst/Brot für die Welt Francisco Marí ist Referent für Welternähr­ung, Agrarhande­l und Meerespoli­tik beim Evangelisc­hen Entwicklun­gsdienst »Brot für die Welt«. Er sitzt im Internatio­nalen Rat des Weltsozial­forums und nimmt am Treffen in Montreal teil, das vom 9. bis 14....

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