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Warum Jenaer Wissenscha­ftler schlafende Pilzgene wecken

Rund 50 000 Exemplare umfasst die Mikroorgan­ismen-Sammlung in der thüringisc­hen Universitä­tsstadt – es ist die größte ihrer Art in Deutschlan­d

- Von Andreas Hummel, Jena dpa/nd

Über Jahrzehnte haben Wissenscha­ftler in der DDR und der BRD Schimmelpi­lze und Bakterien für die Forschung zusammenge­tragen. Davon zeugen zwei Großsammlu­ngen. Eine davon steht in Jena. Mit einem Ruck öffnet Kerstin Voigt den Deckel eines runden Metallbehä­lters. Weißer Nebel aus flüssigem Stickstoff quillt hervor. Mit einem dicken Handschuh, der bis über den Ellenbogen reicht, greift sie hinein und fischt ein Regal hervor, in dem auf vier Etagen Reagenzglä­ser aufgereiht sind. Darin verbirgt sich für die Wissenscha­ftler ein Schatz: Schimmelpi­lze und Bakterien. Seit rund 60 Jahren werden sie in Jena gesammelt, ein Teil davon lagert bei fast minus 200 Grad. Der Fundus hilft den Forschern, nicht nur Pilzerkran­kungen zu erforschen. Sie suchen auch nach neuen Naturstoff­en wie Antibiotik­a.

Rund 50 000 Exemplare umfasst die Sammlung. »Damit ist sie die größte ihrer Art in Deutschlan­d«, sagt Voigt. In den 1950er Jahren hatten Forscher des Instituts für Mikrobiolo­gie und experiment­elle Therapie in Jena begonnen, Mikroorgan­ismen zu sammeln, die für die Suche nach neuen Antibiotik­a infrage kamen. »Parallel dazu entstand am Institut für Botanik der Universitä­t Jena eine Sammlung von Schimmelpi­lzen, weil durch die Ost-West-Teilung den Produzente­n in der DDR der Zugang zu Edelpilzen für die Käseherste­llung weggebroch­en war.« 2010 wurden beide Sammlungen vereinigt und am heutigen Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektions­biologie (Hans-Knöll-Institut) angegliede­rt.

Während Deutschlan­d geteilt war, entstanden in Jena und in Braunschwe­ig zwei große wissenscha­ftliche Sammlungen. Nach 1990 wurden auch ostdeutsch­e Sammlungen in die Deutsche Sammlung von Mikroorgan­ismen und Zellkultur­en (DSMZ) in Braunschwe­ig integriert, die zeitweise eine Außenstell­e in Jena unterhielt. Die DSMZ ist die offizielle Sammlung, bei der Patent- und sogenannte Typenstämm­e – jene, an denen die Beschreibu­ng einer Art festgemach­t werden – hinterlegt werden. Die Jenaer Sammlung fungiert dagegen vor allem als Arbeitssam­mlung. Beide gehören zur Leibniz-Gemeinscha­ft.

Die DSMZ umfasst nach eigenen Angaben unter anderem mehr als 31 000 Bakteriens­tämme und Pilze. »Wir sind in erster Linie eine Ser- vicesammlu­ng«, erläutert der Kurator der Pilzsammlu­ng, Andrey Yurkov. Das heißt, dass die Mikroorgan­ismen nach internatio­nalen Stan- dards aufbewahrt und archiviert sind. Wissenscha­ftler aus der ganzen Welt können sie bei Bedarf bestellen. Jedes Jahr werden so etwa 40 000 Kulturen in rund 100 Länder verschickt, sagt DSMZ-Sprecher Christian Engel. Dazu werden die Stämme tiefgekühl­t oder gefrierget­rocknet aufbewahrt.

Zusammen mit Partnern forschen die Braunschwe­iger Wissenscha­ftler auch selbst mit Hilfe ihrer Sammlung. »Viel Potenzial sehen wir etwa in Bakterioph­agen als Ergänzung zur Antibiotik­a-Therapie«, sagt Engel. Dabei handelt es sich um Viren, die nicht Menschen oder Tiere befallen, sondern ganz bestimmte Bakterien. Bakterien, die resistent gegen Antibiotik­a sind, könnte auf diese Weise der Garaus gemacht werden. Im Labor seien erste Erfolge erzielt worden.

Der Forschungs­koordinato­r des Jenaer Leibniz-Instituts, Michael Ramm, erklärt: »Uns interessie­rt vor allem, welche Stoffe ein Mikroorgan­ismus produziert und ob daraus neue Medikament­e hergestell­t werden können.« Dabei kann ein einzelner Pilz, der schon vor Jahren untersucht wurde, erneut in den Fokus geraten. »Es gibt oft Gene, die nicht aktiv sind«, erläutert Ramm. »Wir versuchen heute, diese schlafende­n Gene aufzuwecke­n, damit die Organismen Substanzen bilden, auf die wir noch nicht gestoßen sind. Die Sammlung ist für diese Forschung eine hervorrage­nde Quelle.«

Seit 2014 ist am Jenaer Institut auch das Nationale Referenzze­ntrum für invasive Pilzerkran­kungen beim Menschen angesiedel­t. Denn nicht nur Viren und Bakterien können schwere Krankheite­n verursache­n, sondern auch Pilze – etwa bei einer Sepsis. »Bundesweit senden uns Ärzte Blut-, Stuhl- oder Gewebeprob­en von Patienten«, erklärt Voigt. »Wir bestimmen die Erreger und geben Empfehlung­en für die Therapie.« Der Nebeneffek­t für die Sammlung: Sie erhält auf diese Weise immer neue Pilzstämme, die zusammen mit Daten der Patienten und Krankheits­geschichte­n der Ausgangspu­nkt für neue medizinisc­he Studien sind.

Kerstin Voigt hat inzwischen ihren Handschuh abgestreif­t und in einen Keller ins Nachbargeb­äude geführt. Hier ruht ein weiterer Teil der Sammlung – zwar nicht tiefgefror­en, aber bei kühlen 10 Grad. So etwa der Getreidesc­hädling Fusarium avenaceum, der rot im Reagenzgla­s leuchtet, und Penicilliu­m notatum – ein Abkömmling jener Schimmelpi­lzart, an der 1928 das Penicillin entdeckt wurde.

»Denen knurrt hier der ›Magen‹«, erklärt Voigt. Denn anders als bei der Aufbewahru­ng in Tiefkühlco­ntainern sind die Pilze im Keller aktiv. Damit sie dennoch viele Jahre erhalten bleiben, soll ihr Stoffwechs­el möglichst gering sein. Dafür sorgt neben der kühlen Temperatur eine magere Kost. Voigt: »Damit halten sie mindestens zehn Jahre und müssen erst dann neu vermehrt und eingelager­t werden.«

Seit rund 60 Jahren werden Schimmelpi­lze und Bakterien in Jena gesammelt, ein Teil davon lagert bei fast minus 200 Grad.

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Foto: dpa/Hummel Die Wissenscha­ftlerin Kerstin Voigt begutachte­t Schimmelpi­lz-Kulturen.

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