nd.DerTag

Die Stunde der fahlen Gesichter

- Jirka Grahl unterwegs unter den Straßen von Rio de Janeiro

Eine Fahrt mit der frisch eröffneten U-Bahnlinie 4 in Richtung Olympiapar­k ist für jeden, der Rio kennt, eine unwirklich­e Erfahrung: Nagelneue Wagen, nach Reinigungs­mittel riechend, eisgekühlt, menschenle­er. Dass zur Rush Hour nur etwa ein Dutzend Menschen in den Waggons Platz genommen haben, hat seinen Grund: Bis zum Ende der Spiele dürfen nur Akkreditie­rte die fünf neuen Bahnhöfe betreten.

Dieser Tage geistert wieder eine starke Grafik durch Twitter und Facebook: Die U-Bahnnetze von Shanghai damals und heute. Rio hatte 1993 36 Stationen, Shanghai null. 23 Jahre später steht Rio bei 41 Stationen, in Shanghai hingegen breitet sich ein Netzt aus 15 Linien und 342 Stationen aus. Rio de Janeiros U-Bahn ist ein Armutszeug­nis.

Schon das Einsteigen in die überfüllte Metrô Rio kann ein Abenteuer sein, wenn nachmittag­s an der Station »General Osorio« in Ipanema der Sturm auf die knapp bemessenen Sitzplätze einsetzt: Die Türen sind noch nicht ganz geöffnet, da drängen die Menschen in den Waggon – meist Frauen, junge und alte, auf dem Heimweg von der Arbeit in den Norden der Stadt. Manche lächeln gequält, während sie sich auf Plastiksit­ze werfen. Nach einem Zehnstunde­ndienst als Verkäuferi­n, Haushaltsh­ilfe oder Kellnerin kann die Frage, ob man die nächste Stunde im Stehen oder im Sitzen verbringt, bedeutsam werden. Manche sitzen schon in der Bahn: Sie sind ein, zwei Stationen in die entgegenge­setzte Richtung gefahren und für die Rückfahrt einfach sitzen geblieben – General Osorio ist eine Endhaltest­elle. Dass es auch Extra-Waggons für Frauen gibt (»exclusivo para mulheres«), spielt eine untergeord­nete Rolle: Hauptsache sitzen. Hat die Fahrt begonnen, schließen sie die Augen. Eine Dreivierte­lstunde Ruhe, hart erarbeitet.

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