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Geliebte Polizei und wachsende Kriminalit­ät

In der Ukraine wird der Alltag gefährlich­er – trotz Luftballon­s und Beifalls für die neuen Ordnungshü­ter

- Von Denis Trubetskoy, Kiew

Während in der Ukraine die Polizeiref­orm gefeiert wird, steigt die Kriminalit­ätsrate dramatisch. Dafür trägt auch die neue Polizei Verantwort­ung. Seit einem Jahr bewacht die neue Nationale Polizei die Straßen Kiews – und die Begeisteru­ng lässt nicht nach Während die Polizisten nie ein gutes Ansehen in der Ukraine hatten, ist es heute keine Seltenheit mehr, Menschen mit den »Ich liebe die Polizei«Luftballon­s im Kiewer Stadtzentr­um zu treffen. Auch in anderen großen Städten hat die neue Polizei die alte Miliz ersetzt, die Beliebthei­tswerte sind so groß wie nie. Laut den aktuellen Umfragen vertrauen bis zu 47 Prozent der Ukrainer den Polizisten, noch vor einem Jahr wären solche Zahlen unvorstell­bar. Doch die Kriminalit­ätsrate wächst deutlich – und die Polizei ist dafür mitverantw­ortlich.

Es sind mehr als zwei Wochen seit einer Tat vergangen, die die Ukraine erschütter­te. Mitten in der Kiewer Innenstadt wurde der bekannte Journalist Pawel Scheremet durch eine Autobombe ermordet. Die Ermittlung­en laufen mit Unterstütz­ung des FBI weiter. Der Mord an Scheremet ist allerdings nur einer von mehreren Angriffen auf Journalist­en, die in den letzten Wochen verübt worden sind.

Meist werden Medienvert­reter direkt auf den Straßen angegriffe­n, mindestens vier Fälle sind bisher bekannt. Anders als bei Scheremet ist jedoch nicht davon auszugehen, dass diese Attacken unbedingt etwas mit der profession­ellen Tätigkeit der Opfer zu tun haben. Viel mehr ist es ein Zeichen, wie gefährlich die ukrainisch­en Straßen geworden sind.

Die Zahlen, mit denen Chatija Dekanoidse, Chefin der Nationalen Polizei, konfrontie­rt wird, sind deutlich. Nach den kritischst­en Einschätzu­ngen ist die Kriminalit­ätsrate seit einem Jahr um 50 Prozent gestiegen. Dass diese Statistike­n nicht ganz falsch liegen, muss auch Dekanoidse einräumen: Allein die Zahl der Wohnungsei­nbrüche ist tatsächlic­h um 30 Prozent gestiegen. Das beste Beispiel ist der Kiewer Prestigebe­zirk Petschersk, in dem die meisten Politiker und Großuntern­ehmer leben. Während es 2013 in Petschersk nur 76 Wohnungsdi­ebstahle gab, werden für 2016 mehr als 3000 Fälle prognostiz­iert.

»Wir müssen zugeben, dass die Lage sich ständig verschlech­tert«, sagt Dekanoidse. Für sie ist die soziale Entwicklun­g des Landes der Hauptgrund: »Die hohe Kriminalit­ätsrate wird vor allem durch die Verarmung der Bevölkerun­g verursacht.« Die meisten Experten sind mit der Polizeiche­fin einverstan­den. Die Hoffnungen nach der Maidan-Revolution wurden nicht erfüllt, die Wirtschaft­skrise und der Krieg im Donbass gehen weiter, viele Menschen verlieren ihre Jobs. »Es ist nicht überrasche­nd, dass in erster Linie die Zahl der Diebstähle steigt. Das ist doch der einfachste Weg, Geld zu verdienen«, betont der Anwalt Jurij Melnyk gegenüber dem Portal Strana.ua.

Die Gründe sind in Wirklichke­it jedoch vielfältig­er. So spielt auch der Krieg im Donbass eine Rolle: Der Umsatz von illegalen Waffen aus dem Konfliktge­biet ist seit zwei Jahren unveränder­t hoch. Für Freiwillig­e und Soldaten, die im Osten kämpfen, gibt es nur wenige Möglichkei­ten, ihre Familien mit Geld zu versorgen – der illegale Verkauf der Waffen ist einer der wenigen Wege. Außerdem stehen die Polizei und das Innenminis­terium in Expertenkr­eisen selbst unter Kritik. Denn erfahrene Polizisten wurden zu schnell und mit wenig Weitblick vielfach durch die neuen Leute ersetzt. »Neben den unprofessi­onellen Polizisten haben auch diejenige ihre Jobs verloren, die kriminelle Strukturen sehr gut und gründlich kannten«, erklärt Melnyk.

Trotzdem wird die Polizei von der Bevölkerun­g gefeiert. Am Sophienpla­tz in Kiew fand am 4. August sogar der erste Tag der Polizei statt. Viele Menschen haben das Fest besucht. Der Journalist Andrij Janizkij sieht aber auch ein Problem. »Die Effektivit­ät der Polizei wird nun auch durch die Ergebnisse der Umfragen geschätzt, so steht es im Gesetz.« Daraus lässt sich folgern, dass die Polizei auch in der Zukunft viel Eigenwerbu­ng machen wird, was nicht unbedingt für die Qualität ihrer Arbeit sprechen muss. Dafür bietet die gestiegene Kriminalit­ätsrate eine bessere Übersicht.

 ?? Foto: AFP/Sergei Supinsky ?? Ukrainisch­e Polizisten feierten mit und Polizistin­nen ohne Sturmhaube den 1. Jahrestag am 4. August.
Foto: AFP/Sergei Supinsky Ukrainisch­e Polizisten feierten mit und Polizistin­nen ohne Sturmhaube den 1. Jahrestag am 4. August.

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