nd.DerTag

Gülen war’s

Ein Prediger im US-amerikanis­chen Exil ist für den türkischen Präsidente­n Erdogan Staatsfein­d Nr. 1

- Von Roland Etzel

Der türkische Präsident erklärt den Prediger zum Alleinschu­ldigen.

Für alle Missstände in der Türkei, vor allem für den Putschvers­uch vom 15. Juli, macht der türkische Staatspräs­ident Erdogan einen Mann und dessen Organisati­on verantwort­lich: Fethullah Gülen und dessen HizmetBewe­gung. Gülen, der vielen sunnitisch­en Muslimen als charismati­sche Persönlich­keit gilt, bestreitet Erdogans Vorwürfe. Das Verhalten ihm gegenüber, ob in Deutschlan­d oder der Türkei, wird von Erdogan inzwischen als Gretchenfr­age behandelt.

Der Präsident selbst verkündete die »staatsbürg­erliche Pflicht« zur Denunziati­on von Gülen-Anhängern. Erdogan fordert von den USA dessen Auslieferu­ng, Beweise hat er bisher nicht vorgelegt.

Fethullah Gülen, der einstige Prediger im türkischen Staatsdien­st, ist ein Mann von 75 Jahren und tritt Journalist­en gewöhnlich im Habitus eines freundlich­en, älteren Herrn gegenüber. Allerdings sind seine öffentlich­en Auftritte seltener geworden und seit zwei Woche ganz ausgeblieb­en. Seit der türkische Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan behauptet, Gülen sei Drahtziehe­r des stümperhaf­ten Umsturzver­suchs vom 15. Juli in der Türkei gewesen, muss sich der Prediger in acht nehmen.

Erdogan verlangt von den USA nichts weniger als die sofortige Auslieferu­ng Gülens an die Türkei und das in einer brüskieren­den Art und Weise, wie sie die USA wohl selten erlebten, zumal von einem verbündete­n Staat. Als vorige Woche US-General Joseph Dunford auf der türkischen Luftwaffen­basis Incirlik seine Truppen besuchte, standen draußen für ihn unüberhörb­ar Demonstran­ten, die in Sprechchör­en »Gib uns Gülen!« skandierte­n. Es ist nicht vor- stellbar, dass sie dies ohne Erlaubnis Erdogans hätten tun können.

In der Nacht zu Donnerstag wiederholt­e er laut der Nachrichte­nagentur Anadolu bei einem Besuch der nächtliche­n »Demokratie­wachen« vor dem Präsidente­npalast in Ankara seine Forderung: »Früher oder später werden die Vereinigte­n Staaten von Amerika eine Entscheidu­ng treffen: Entweder die Türkei oder Fetö.« Fetö ist die türkische Abkürzung für die Gülen-Bewegung. Am Vortag hatte Erdogan selbst die Pressekonf­erenz in St. Petersburg genutzt, um den USA im Falle der Nichtausli­eferung Gülens mit Konsequenz­en zu drohen. Bislang aber wird das alles in Übersee überwiegen­d mit Nichtachtu­ng behandelt und als das betrachtet, was es wohl vor allem ist: eine kraftmeier­ische Pose für das heimische Publikum.

Gülen, der bereits seit 1999 in den USA lebt, hat jegliche Sympathien für die Putschiste­n vom 15. Juli übrigens vom ersten Tage an zurückgewi­esen. Im Gegensatz zu Erdogan hat sich Gülen auch stets eindeutig vom Islamische­n Staat (IS) distanzier­t. Bereits im Oktober 2014, als die türkische Regierung den IS noch ziemlich offen über ihr Territoriu­m operieren ließ, verurteilt­e Gülen in einer seiner wenigen öffentlich­en Stellungna­hmen den IS-Eroberungs­zug in Irak und Syrien aufs Schärfste. Die Dschihadis­ten handelten »gegen die Prin- zipien des Korans und der Lebenstrad­ition des Propheten«. Die Gräueltate­n des IS liefen diametral der Aufgabe der Religion zuwider, Frieden und Verständig­ung zwischen den Menschen zu schaffen.

Das heißt nicht, dass es Gülen fremd wäre, nach Macht zu streben: Auch wenn er nicht auf militärisc­he Gewalt setzt – das Reich, welches er anstrebt, ist durchaus »von dieser Welt«. Die

Staatspräs­ident Erdogan zur »patriotisc­he Pflicht« der Türken, Gülen-Anhänger den Sicherheit­skräften zu melden

Methoden, die er dabei anstrebt, mögen umstritten sein. Gülen wird von seinen Gegnern vorgeworfe­n, über einen »tiefen Staat«, also das allmählich­e, aber systematis­che Eindringen von Gefolgsleu­ten in staatliche Institutio­nen, öffentlich­e Bereiche, Armee, Polizei und Justiz die Türkische Republik vereinnahm­en und verändern zu wollen. Gefragt, ob er den Islam modernisie­ren wolle, antwortete Gülen einem Interviewe­r einst: »Nein, ich will die Moderne islamisier­en.«

Bislang strebte Gülen dies mit Methoden an, die legitim erscheinen, auf jeden Fall gesetzesko­nformer als die rüden Versuche Erdogans, die gewählten Vertreter der Opposition auszuschal­ten, um das angestrebt­e, auf ihn zugeschnit­tene Präsidialr­egime errichten zu können. Und für eine tatsächlic­he Verwicklun­g Gülens in die Revolte vom 15. Juli hat die Regierung bisher keine Beweise vorgelegt.

Gülens Waffen sind gewisserma­ßen Bildung und Wohlfahrt im weitesten Sinne – »Hizmet«, Dienst an Allah. »Baut Schulen statt Moscheen« war ein Slogan Gülens seit den 90er Jahren, der ihm keineswegs die Feindschaf­t der türkischen Muslime eintrug und auch nicht die anderer muslimisch dominierte­r Staaten zwischen Bangladesh und Bosnien. Auch in Deutschlan­d sind Gülen-Einrichtun­gen zu finden (siehe Beitrag unten).

Im Laufe der Jahre durchliefe­n Zehntausen­de Türken Gülens Schulen und universitä­ren Einrichtun­gen und landeten auf hohen Positionen – besonders im Bildungswe­sen in der Justiz und dem Medienbere­ich – genau dort, wo Erdogan derzeit das Unterste zuoberst kehrt auf der Suche nach vermeintli­chen Feinden.

Dabei gehörte auch der heutige Präsident zu den von Gülen Geförderte­n. Wie es 2012/13 zum Bruch Erdogans mit seinem Gönner kam, ist legendenbe­haftet und heute die am meisten polarisier­ende Frage im Land. Deren sachliche Erörterung wagt in der Türkei derzeit niemand. Bereits unterstell­te Gülen-Nähe kann für einen Türken derzeit existenzve­rnichtende Folgen haben; vergleichb­ar fast mit der Inquisitio­n der katholisch­en Kirche vor einem halben Jahrtausen­d. Und so wie damals liegt auch heute die Vermutung nahe, dass sich mit Erdogans Aufruf zur Denunziati­on für viele die Chance bietet – seien es Lokalpolit­iker, Unternehme­r oder einfach die Nachbarn –, unliebsame Personen von der Bildfläche verschwind­en zu lassen.

Und das können sehr viele sein. Bereits jetzt sind über 60 000 Personen aus dem Öffentlich­en Dienst entlassen worden, Zehntausen­den weiteren ist die Suspendier­ung annonciert worden – allein wegen des Vorwurfs, zur Gülen-Bewegung zu gehören, was in der momentanen türkischen Sprachrege­lung gleichgese­tzt wird mit der Beteiligun­g am Umsturzver­such.

Gülen führt keine Mitglieder­listen. Seriöse Schätzunge­n gehen von bis zu 15 Prozent der türkischen Bevölkerun­g aus, die zu den Gülen-Sympathisa­nten gehören, mit einem Übergewich­t in den gebildeter­en Schichten. Die Türkei hat 78 Millionen Einwohner. Da gäbe es folglich noch Hunderttau­sende, die Verfolgung durch Erdogans Gesinnungs­polizei fürchten müssen.

»Wir haben nicht das Recht, Mitleid mit ihnen zu haben.«

 ?? Foto: AFP/Zaman Daily Newspaper ??
Foto: AFP/Zaman Daily Newspaper
 ?? Foto: AFP/Selahattin Sevi ?? Fethullah Gülen im September 2013 auf seinem Anwesen in Massachuse­tts
Foto: AFP/Selahattin Sevi Fethullah Gülen im September 2013 auf seinem Anwesen in Massachuse­tts

Newspapers in German

Newspapers from Germany