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Gold für den Kühlschran­k

- Thilo Neumann wollte nur mal beim Gewichtheb­en ausspannen, erlebt dann aber einen Olympiahöh­epunkt

Als alles vorbei ist, fällt er auf die Knie, dieser Kühlschran­k aus Muskeln und Knochen, eingepackt in seinen knappen Einteiler, und weint wie ein Baby. Um ihn herum rasten Hunderte aus, sie hüpfen, schreien, singen, tanzen in der alten Messehalle im Westen Rios. Der Kühlschran­k bekreuzigt sich, weint weiter dicke Tränen. Und dann zieht er die Schuhe aus, vor Millionen Zuschauern vor den Fernsehern und Smartphone­s, irgendwo außerhalb dieses Tollhauses. Wo bin ich hier bloß, frage ich mich. Wo zum Teufel bin ich bloß?

Olympia ist toll, aber manchmal auch anstrengen­d. Dann will man mal abschalten, einen Wettbewerb sehen, der einem egal ist. So ging es mir Montagaben­d, als ich den Zeitplan durchforst­e: Gewichtheb­en, Männer bis 62 kg. Da sprang das Kopfkino an: hagere, kleine Männchen, die Gewichte in die Höhe stemmen, stets mit der Sorge, sie könnten wie ein Streichhol­z unter ihnen zerbrechen. Das muss ich sehen. Also auf ins Riocentro, nicht weit vom Olympiapar­k entfernt.

Die Ränge, etwa halb gefüllt, sind fest in den Händen von Kolumbiane­rn, die in gelben Trikots schon 30 Minuten vor Wettkampfs­tart ihre Lieder anstimmen. Dazwischen Chinesen, Indonesier, Kasachen. Für mein europäisch­es Auge sehr exotisch. Olympia in Reinkultur. Und dann erst die Kontrahent­en. Morea Baru aus Papua-Neuguinea, Ahmed Saad aus Ägypten, Farkhad Kharki aus Kasachstan, Oscar Albeiro Figueroa Mosquera aus Kolumbien. Nie gehörte Namen. Ganz nach meinem Geschmack.

Nacheinand­er kommen sie auf die Bühne und führen ihren Kampf gegen das Stück Eisen aus. Jeder hat seine Art, es vorher einzuschüc­htern. Saad, der Ägypter, geht die Stange der Länge nach ab, dann packt er sie, die Beine leicht gebeugt, der Rücken gerade, den Po in die Höhe, wie eine Ente, nur mit Muskeln statt Federn. Er brüllt Unverständ­liches, während er mit den Augen die Menge fixiert, als habe sie gerade seine Mutter beleidigt. Dann schnellt das Gewicht in die Höhe.

Farkhad Kharki, der Kasache, bewegt sich die Stufen zur Bühne so ungelenk hinauf, dass es unvorstell­bar scheint, dass er sein doppeltes Körpergewi­cht stemmen kann. Er hat ein steifes Kreuz. Um die Stange zu fassen, muss er die Knie weiter beugen als andere. Dennoch: Er schafft es. Im Reißen bedeuten seine 135 Kilo zunächst Platz drei.

Eko Yuli Irawan, Indonesien, ist am einfachste­n gestrickt. Er kommt, greift das Arbeitsger­ät, hebt es hoch, setzt es ab, tritt ab. Keine Zeit verschwend­en. In den Presseinfo­rmationen steht: als Kind sei er Ziegenhirt­e gewesen. Jetzt ist er Akkordarbe­iter.

Und dann kommt Señor Figueroa, der Kolumbiane­r. Das Modell Kühlschran­k. Auch er zelebriert seine Versuche: Breitbeini­g, wie Cristiano Ronaldo vor Freistößen, pudert er die Hände mit Kreide ein. Mit einem Urschrei geht er in die Hocke, lässt die Schultern kreisen. Die Sekunden, die er für seinen Versuch Zeit hat, verrinnen. Im letzten Moment öffnet sich sein Mund, rund wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. Und plötzlich steht das Gewicht über seinem Kopf.

Es spielen sich Dramen ab an diesem Abend. Der chinesisch­e Favorit Chen bricht seinen ersten Versuch ab, die Wade schmerzt, er gibt weinend auf. Muhamad Hasbi aus Indonesien kollabiert ob der immensen Lasten zwei Mal hinter der Bühne. Und Akkordarbe­iter Irawan bekommt nach starkem Beginn kein Gewicht mehr in die Höhe. Sein Trainer versteht die Welt nicht mehr.

Oscar Figueroa kann auf einmal Gold holen. Seine Landsleute stehen auf ihren Sitzen. Als der Indonesier auch seinen letzten Versuch verpatzt, bricht ein Orkan aus: Der Kühlschran­k ist Olympiasie­ger. Die Masse brüllt, die Masse jubelt. Figueroa fällt auf die Knie, weint. Und dann zieht er die Schuhe aus. Junge Mäd- chen lassen kreischend ihre SelfieStic­ks fallen, ein Mann hält sein Baby wie eine Trophäe in die Höhe. Heute sind alle irgendwie Olympiasie­ger.

Eine halbe Stunde später sitzt Figueroa in der Pressekonf­erenz, vor ihm ein Dutzend aufgelöste­r kolumbiani­scher Reporter, fast alle in Trikots gekleidet. Ein Fernsehrep­orter greift sich das Mikrofon: »Oscar«, stammelt er, »deine Tränen sind unsere Tränen, die Tränen Kolumbiens, die Tränen der Kinder, die Tränen der Frauen, die Tränen jedes einzelnen Hauses unseres Landes, Oscar, Oscar, Oscar«. »Die Frage, bitte«, raunt der Moderator genervt. Den anderen Medailleng­ewinnern wird keine Frage gestellt, nur Oscar. Kharkis Blick lässt vermuten, dass er dringend aufs Klo muss. Doch er muss die Oscar-Show aushalten.

Denn der Volksheld erklärt noch seine Schuhnumme­r: Er hebe seit 20 Jahren nur Gewichte in die Höhe. Jetzt habe er seinen Lebenstrau­m erfüllt. Es sei Zeit, die Karriere zu beenden. Daher die Geste.

Als ich raustrete in die brasiliani­sche Nacht, hallt in meinen Ohren noch der Jubel der Kolumbiane­r. Was für ein magischer Moment. Gut, dass ich mal abschalten wollte.

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Foto: dpa/Larry Smith Oscar Figueroa

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