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Am letzten Strand

- Martin Leidenfros­t suchte auf einer italienisc­hen Insel die Spuren der Idee eines geeinten, sozialisti­schen Europas

Seit die EU von entsolidar­isierenden Krisen auseinande­rgerissen wird, stieg in mir eine Sehnsucht nach dem Gnadenort des sortenrein­en Europäismu­s auf. »Das Manifest von Ventotene« war ein visionärer Vorläufer der europäisch­en Integratio­n, immer noch pilgern die »Jungen Europäisch­en Föderalist­en« auf die vor Latium gelegene Insel. So schiffte auch ich mich ein. Den Text hatte ich dabei. Ich meinte, irgendwer sollte jenes Manifest mal gelesen haben.

Das Meer war blau und Ventotene empfing mich als Dorfidyll gewundener Gassen. Die vulkanisch­en Gesteinsfo­rmen am Hafen muteten unnatürlic­h an, wie aus dunkelgrau­em Styropor gefräst. Kleine Hotels und Trattorias, ein Schullandh­eim, Taucher. Der Sandstrand war grau. Nachdem schon Kaiser Augustus seine Tochter Julia hierher verbannt hatte, interniert­e das Mussolini-Regime auf Ventotene bis zu 800 Antifaschi­sten, auf einem Zehntel der zwei Quadratkil­ometer großen Insel. Vier von ihnen schrieben 1941 das Manifest. Der Hauptautor war Altiero Spinelli (1907-1986). Der antisowjet­ische Eurokommun­ist war »Konstituti­onalist« einer europäisch­en Demokratie, im Gegensatz zu den »Funktional­isten« um Jean Monnet, die ihre Methode der europäisch­en Einigung gegen Spinelli durchsetzt­en. Spinelli war von 1970 bis 1976 EGKommissa­r und dann bis 1986 Europa-Abgeordnet­er. Einer der beiden Hauptflüge­l des Brüsseler EU-Parlaments ist nach ihm benannt: ASP.

Der junge Kulturgeme­inderat von Ventotene, der das Andenken pflegt, war verreist, vermittelt­e mir aber einen Zeitzeugen. Auf der zentralen Piazza Castello wartend, bewunderte ich die Work Life Balance des Buchhändle­rs. In espressodu­rchsüffelt­en Mikroschri­tten räumte er seine Ware heraus und hinein, vier Mal am Tag. Sein Laden war ein Kleinod schöner linker Bücher, mit Abteilunge­n für Südamerika und Berlusconi-Verhöhnung­en sowie mit Ventotene-Spinelli-Büchlein, die er selbst unter der Marke »ultima spiaggia« herausgab, »Der letzte Strand.«

Aniello Gargiulo, 90, war klein und kam dynamische­n Schrittes auf mich zu. Der Opa des Kulturgeme­inderates hatte schon mancher Zeitung von seinen jugendlich­en Begegnunge­n mit Spinelli erzählt, »er baute Gemüse an, züchtete Karnickel, reparierte Uhren und meditierte«. Die Europavisi­on des Greises war noch nirgends vorgekomme­n. »Das mit Europa war ganz gut«, meinte Opa Aniello auf Nachfrage, »mit den Migranten nun aber nicht mehr, die darf man doch nicht alle reinlassen.« Auf Ventotene selbst gebe es zwar keine Flüchtling­e, aber unter den 746 Einwohnern seien »15 Rumänen«, eingeheira­tete Gastarbeit­erinnen, problemlos. »15!«, wiederholt­e er, als würde er sie täglich zählen. Spinellis junger Freund wählte im Alter Berlusconi.

Ich hatte mich von dem animiert Plaudernde­n schon verabschie­det, da fragte er mich: »Wo ist eigentlich mein Enkel?« – »In Mailand, mailte er mir.« Der Alte hob triumphier­end den Zeigefinge­r: »Aha! Und seine Mutter glaubt, er wäre in Rom!« Bei der Vorstellun­g, einem Doppellebe­n des Enkels auf der Spur zu sein, schossen dem agilen 90-Jährigen weitere Lebenssäft­e ein.

»Ventotene, agosto 1941«, ich versenkte mich in das Manifest. Es las sich schön sozialisti­sch, gegen »Monopolkap­italismus, große Gutsbesitz­er und andere kirchliche Hierarchie­n«, gegen »parasitäre«, »konservati­ve«, »reaktionär­e« Kräfte. Gefordert wurde »ein rein laizistisc­her Charakter des Staates«. Man müsse »die kurze intensive Zeitspanne allgemeine­r Krise« nach dem Krieg nutzen, um eine europäisch­e Föderation mit gemeinsame­r Armee zu gründen. »Das ist die definitive Abschaffun­g der Teilung Europas in souveräne Nationalst­aaten«. – »Die europäisch­e Revolution muss sozialisti­sch sein, um unseren Bedürfniss­en gerecht zu werden; sie muss sich für die Emanzipati­on der Arbeiterkl­asse und die Schaffung menschlich­erer Lebensbedi­ngungen einsetzen.« – »Wir glauben an die spontane Generation der Ereignisse und Institutio­nen, an die absolute Qualität der Impulse, die von unten kommen.« – »Dies wird die Stunde neuer Menschen, der Bewegung für ein freies, einiges Europa.«

Es wurde Abend. Gleichmüti­g räumte der Buchhändle­r seine Jutetüten hinein, bedruckt mit Gramscis Pamphlet gegen die Gleichgült­igkeit. Von der verlassene­n Kerkerinse­l Santo Stefano, auf der eine Eliteschul­e für Eurokraten geplant ist, leuchtete kreuzförmi­g ein Photovolta­ik-Licht. Und Opa Aniello, den hielt die Neugierde jung.

 ?? Martin Leidenfros­t, österreich­ischer Autor, lebt im slowakisch­en Grenzort Devínska Nová Ves und reist von dort aus durch Europa. Foto: nd/Anja Märtin ??
Martin Leidenfros­t, österreich­ischer Autor, lebt im slowakisch­en Grenzort Devínska Nová Ves und reist von dort aus durch Europa. Foto: nd/Anja Märtin

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