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Grenzenlos Denken

- Mehr Utopie, bitte! Die gesellscha­ftliche Linke darf nicht dem Ruf der Abschottun­g folgen. Ein Plädoyer für globale Bewegungsf­reiheit von Tom Strohschne­ider

Es gibt vielleicht keinen ungünstige­ren Zeitpunkt, um über offene Grenzen zu schreiben. Immer noch dröhnen die Rufe nach mehr Abschottun­g durch den politisch-medialen Verstärker­raum – mal aus wahlkämpfe­rischem Opportunis­mus, mal in dem Aberglaube­n, die »Flüchtling­skrise« lasse sich auf diese Weise irgendwie »beheben«.

Unterschla­gen wird dabei nicht nur, dass wir in einem Zeitalter der Migration und der Globalisie­rung auch von Biografien leben, in dem das, was hier für ein »Ausnahmezu­stand« gehalten wird, eine Normalität von Dauer ist, mit der man umgehen muss. Unterschla­gen werden dabei auch die Kosten der Abschottun­g: Wer über geschlosse­ne Grenzen redet, sollte von den Tausenden Toten nicht schweigen.

Es geht hier im Übrigen nicht bloß um die Moral von Politikern. Es geht auch um die 40, 50 Prozent, die sich in Umfragen für eine vollständi­ge Schließung der Grenzen für Flüchtling­e ausspreche­n. Man muss befürchten, dass sich an diesen Zahlen auch nichts ändert, wenn wieder mehr über die Opfer der Abschottun­g berichtet würde. Es sind allein in diesem Jahr und nur im Mittelmeer bereits über 4000 Tote zu beklagen. Die Rufe nach geschlosse­nen Grenzen machen mehr Schlagzeil­en. Sollen Linke mit der Forderung nach offenen Grenzen dagegen halten?

Es gäbe dafür wichtige Gründe. Erstens wird die Frage globaler Bewegungsf­reiheit nicht allein dadurch beantworte­t, dass man Fluchtursa­chen bekämpft, ein Anliegen, das so oder so richtig bleibt, nämlich des- halb, weil Klimakatas­trophe, Kriege, Armut, Hunger, Verfolgung und so fort niemals duldbar sind. Zweitens, weil die Kosten der Abschottun­g auch bei gemäßigten Varianten – also etwa der »regulierte­n« Zuwanderun­g – nicht unterschla­gen werden können, bei der, das sagt der Name schon, immer auch Menschen draußen bleiben müssen, die dann auf gefährlich­en Wegen versuchen wer- den, es dennoch zu schaffen. Und drittens, weil es verdammt noch einmal nicht die Aufgabe von Linken ist, das politische Denken auf den Radius »pragmatisc­her«, in zwei Jahren erreichbar­er Lösungen zu begrenzen. Selbstvers­tändlich sind offene Grenzen als globaler Zustand (noch) eine Utopie. Aber das trifft auf vieles andere auch zu, ohne dass deshalb jemand fordern würde, man könnte es ja – zum Beispiel: bei ein bisschen Ausbeutung belassen, statt diese ganz überwinden zu wollen.

Apropos. Gegen die Forderung nach offenen Grenzen wird eingewandt, darin verstecke sich eine neoliberal­e Zielsetzun­g: Geflüchtet­e und Migranten verstärkte­n durch Konkurrenz den Druck auf Sozialsyst­eme und Löhne, zudem profitiere die kapitalist­ische Aneignung ihrer Arbeit hierzuland­e davon, dass die Kosten für ihre Ausbildung usf. woanders angefallen sind. Es gibt nicht gerade wenige Experten, die das längst ganz anders sehen, die von einem »BrainGain« sprechen, also davon, wie Migration die Herkunftsl­änder ökonomisch stärkt; davon, dass Einwanderu­ng positive Effekte auf Wachstum sowie die sozialen Bedingunge­n der Arbeit in den Zielländer­n hat; davon, dass frühere Grenzöffnu­ngen eben nicht die vorher beschworen­e Ar- mutsmigrat­ion angeblich unkontroll­ierbaren Ausmaßes auslösten.

Aber pflegt, wer so argumentie­rt, nicht ein Nützlichke­itsdenken, in dem die Frage der Einwanderu­ng zu einem Faktor kapitalist­ischer Ökonomie wird? Gegenfrage: Liegt im Argument, offenere Grenzen könnten sich auf die soziale Lage Einheimisc­her negativ auswirken, nicht auch ein »Nützlichke­itsdenken«, nur dass dieses eine Gruppe bevorzugt und anderen die freie Wahl, zu leben, wo man möchte, bestreitet?

Diese Dimension offener Grenzen können Linke nicht unterschla­gen. Der Weg, Bewegungsf­reiheit global und für alle gerecht zu ermögliche­n, wird lang sein. Darüber zu diskutiere­n, wie man vorankommt, ist die Herausford­erung für alle Linken und erfordert, dass mehr für weitreiche­nde Zwischensc­hritte wie eine europäisch­e Grundsiche­rung und Staatsbürg­erschaft gestritten wird. Gerade jetzt – weil es vielleicht keinen ungünstige­ren Zeitpunkt gibt, um über offene Grenzen zu schreiben. Die Alternativ­e nämlich ist keine: sich auf die eine oder andere Weise auf einen »Gated Capitalism« einzulasse­n, in dem die kleiner werdenden Wohlstands­zonen um den Preis tödlicher Gewalt vom Rest abgeschott­et werden.

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Tom Strohschne­ider ist nd-Chefredakt­eur Foto: Camay Sungu

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