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Vier Stunden Eschweiler, angekettet

Das Geiseldram­a von Gladbeck: über einen Medien-GAU und das kaputte System deutscher Strafvollz­ug

- Von Tom Strohschne­ider

Zwei brutale Geiselnehm­er, drei tote Menschen, eine enthemmte Journaille: Vor fast 30 Jahren sorgte das Geiseldram­a von Gladbeck für Schlagzeil­en. Die Geschichte ist auf ihre Weise hoch aktuell. Es war der 28. August, der Feuerball brannte sich ins öffentlich­e Gedächtnis, eines der schwersten Unglücke bei einer Flugshow kostete 70 Menschen das Leben. Ramstein, 1988.

Die Katastroph­e von RheinlandP­falz verdrängte damals eine andere Nachricht aus den Schlagzeil­en – die Geiselnahm­e von Gladbeck. Im Rückblick eines der »spektakulä­rsten Verbrechen der Nachkriegs­zeit«, wie es der damalige Bremer Innensenat­or Bernd Meyer nannte, der in der Folge zurücktret­en musste.

Die drei Tage, die zumindest die bundesrepu­blikanisch­e Welt in Atem hielten, waren aber noch mehr: ein journalist­ischer Sündenfall. Was war passiert? Am 16. August hatten Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner eine Bankfilial­e im nordrheinw­estfälisch­en Gladbeck überfallen und auf der Flucht durch die halbe Bundesrepu­blik und sogar die Niederland­e mehrmals Geiseln genommen. Die Polizei reagierte konfus, lief den Ereignisse­n hinterher. Ein Beamter kam bei einem Unfall ums Leben, zwei Geiseln starben – der 15jährige Italiener Emanuele De Giorgi und die 18-jährige Silke Bischoff.

Ob und wie das Verhalten von Journalist­en dafür mitverantw­ortlich war, lässt sich kaum sagen. Sicher ist: Es war ein Medien-GAU. Reporter interviewt­en die Täter, ließen sich im Fluchtfahr­zeug mitnehmen, behinderte­n die Polizisten, wiesen den Geiselnehm­ern den Weg, staffierte­n ein verletztes Opfer fotogerech­t für die Kamera – kurzum: Sie durchbrach­en in einer Art Gruppenexz­ess die Grenzen der journalist­ischen Ethik.

Einer von ihnen, Udo Röbel, später »Bild«-Chef, bekannte im Rückblick: »Wir waren wie berauscht.« Den Polit-Talker Frank Plasberg, damals beim Rundfunk, befiel späte Reue. Gladbeck habe gezeigt, »was passiert, wenn der Jagdtrieb mit Journalist­en durchgeht«. Wegen Gladbeck wurde der Pressekode­x geändert. Der Jagdtrieb ist geblieben.

Die Geiselnahm­e steht aber noch für etwas anderes: für das kaputte System Strafvollz­ug. Rösner war schon vor dem gescheiter­ten Banküberfa­ll auf der Flucht, seit er 1986 von einem Hafturlaub nicht zurückgeke­hrt war. Ein 31-Jähriger, der bereits elf Jahre Knast hinter sich hatte. Rösner sagte während der Geiselnahm­e in eine der vielen TV-Kameras: »Ich scheiß’ auf mein Leben.« Er sollte bis heute keines mehr haben.

Im März 1991 wurde Rösner wegen erpresseri­schen Menschenra­ubs, Geiselnahm­e mit Todesfolge und versuchten Mordes zu lebenslang­er Haft verurteilt, Degowski zudem noch für den Mord an dem italienisc­hen Jungen. Beide haben bisher vergeblich versucht, eine vorzeitige Entlassung zu erreichen, die nach Verbüßen der Mindeststr­afe möglich ist. Degowski darf inzwischen im Rahmen von begleitete­n Ausführung­en das Gefängnis verlassen. Rösner, für den nach der Haft Sicherungs­verwahrung angeordnet wurde, hat kaum eine Perspektiv­e auf ein »draußen« danach. 2015 war er zur »Aufrechter­haltung der Lebenstüch­tigkeit« für vier Stunden in der Einkaufsme­ile von Eschweiler, die Hände aneinander­gekettet und in Begleitung von drei Justizbeam­ten.

Rösner ist das traurige Beispiel einer Knastbiogr­afie, in der sich das Gefängnis als Idee selbst widerlegt: 36 Jahre hinter Gittern, ein Drittel davon vor Gladbeck, sind alles, nur keine Resozialis­ierung – obgleich diese doch seit den 1970er Jahren als »Vollzugszi­el« verankert ist. Die Gerichtsre­porterin Gisela Friedrichs­en hat dieser Tage das Dilemma ausge- sprochen, das hier sichtbar wird: Vor allem sehr lange Haft sei »nicht unbedingt dazu angetan, aus einem Menschen einen besseren Menschen zu machen«. Die meisten kämen »mindestens so kaputt« heraus wie sie hereingeko­mmen sind. Mindestens. Thomas Galli, Gefängnisc­hef

Über 60 000 Menschen sind laut Zahlen des Justizmini­steriums derzeit in Deutschlan­d hinter Gittern. Meist Männer. Meist zwischen 20 und 40. Meist für eine Zeit, die zwischen sechs Monaten und fünf Jahren liegt. Etwa jeder Dritte wird rückfällig.

Die Zustände in den Gefängniss­en sind immer wieder Gegenstand politische­r Debatten. Kriminelle Subkulture­n, fehlende Betreuung, Gewalt – das macht Schlagzeil­en. Seltener wird die Frage aufgeworfe­n: Was bringt das Prinzip Gefängnis überhaupt?

Der Leiter der Vollzugsan­stalt im sächsische­n Zeithain, Thomas Galli, meint: Eigentlich nichts. Er fordert eine Strafrecht­sreform, in deren Zentrum »die Auflösung der Institutio­n Gefängnis und deren Ersatz durch sinnvoller­e Alternativ­en« stehen soll. Gefängnis ist für Galli »ohne Wert für die Zukunft«.

Seit der Föderalism­usreform von 2006 sind die Knäste Ländersach­e. Die meisten Experten waren damals dagegen. Es hat Versuche von Ländern gegeben, gemeinsam die Regeln für die Gefängniss­e zu reformiere­n – doch wirklich verbessert hat sich nicht viel. Die Linkenpoli­tikerin Halina Wawyzniak fordert auch deshalb, die Zuständigk­eit für den Strafvollz­ug wieder dem Bund zu geben. Es ist »nicht hinnehmbar, dass die Grundlage der Strafe, die Verurteilu­ng, nach einem Bundesgese­tz stattfinde­t, der Vollzug der Strafe selbst aber von der jeweiligen Landesrege­l abhängig ist«.

Das ist die erste Hürde für eine Reform des Systems Knast. Und es ist nicht die einzige. Selbst in einer rot-rotgrünen Koalition würden substanzie­lle Veränderun­gen der Strafvollz­ugspolitik »nicht unbedingt zu den einfachen Punkten gehören«, sagt Wawzyniak. »Der Strafvollz­ug soll menschenwü­rdig und am Ziel der Resozialis­ierung orientiert gestaltet werden«, heißt es bei den Grünen. Dem würde auch die SPD nicht widersprec­hen. Die Probleme liegen im Detail.

Wawzyniak macht sich dafür stark, dass Gefangene Internetzu­gang bekommen, dass sie in Renten-, Kranken- und Pflegevers­icherung einbezogen werden, sie plädiert für die Abschaffun­g der Ersatzhaft, wenn eine Geldstrafe nicht beglichen wird. Es gibt viele Punkte, an denen Änderungen nötig wären.

Aber politisch ist es dahin ein sehr weiter Weg. Man müsste, sagt die Rechtspoli­tikerin, erst einmal »einen Konsens erzielen, für welche Straftaten eigentlich der Freiheitse­ntzug als Folge Anwendung finden soll«. Die Zahl der Vergehen zu reduzieren, bei denen Gefängnis droht, wäre »vielleicht« ein Anfang, sagt Wawzyniak. In Deutschlan­d kann man schon für Schwarzfah­ren oder unbefugten KfzGebrauc­h hinter Gitter kommen.

Degowski und Rösner haben nicht nur ein Auto ohne Führersche­in gefahren. Degowski kann damit rechnen, bald noch einmal die Welt jenseits der Knastmauer­n zu erleben. Ein Gericht hat die Vollzugsan­stalt Werl vor drei Jahren aufgeforde­rt, ihn auf eine mögliche Entlassung vorzuberei­ten. Es könnte noch in diesem Jahr soweit sein.

Rösner kämpft derzeit juristisch gegen einen ARD-Film über das Geiseldram­a von Gladbeck, weil dieser eine mögliche Wiedereing­liederung gefährden könnte, wie es sein Anwalt sagt. Doch ob Rösner überhaupt eine Chance darauf hat, steht dahin. Vor einem Jahr befand ein umstritten­es Gutachten, er kenne »nur das Leben in der sozialen Randgruppe kriminelle­r und dissoziale­r Menschen«. Aber was soll der Knast daran ändern? Galli sagt: »Je länger Straftäter weggesperr­t sind, desto gefährlich­er werden sie.«

Immerhin könnte man die Knäste ändern, meint Wawzyniak. Denn ganz ohne wird es wohl auch unter ganz anderen politische­n Verhältnis­sen nicht gehen. »Ich halte nichts von der Illusion, dass es eine straffreie Gesellscha­ft geben wird«, sagt die Politikeri­n. Aber »einen anderen Umgang mit Straftäter­n« finden, das wäre möglich. Wenn die Politik es will.

»Je länger Straftäter weggesperr­t sind, desto gefährlich­er werden sie.«

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Foto: dpa/Hartmut Reeh Eine Geiselnahm­e als medialer Ernstfall: Fluchtwage­n der Geiselnehm­er in Köln, umringt von Journalist­en
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Foto: dpa/Ingo Wagner Degowski (links) und Rösner auf der Flucht

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