Wie war das möglich?
Im 55. Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer tobt der Streit um die Deutungshoheit unvermindert weiter
Die Ernte ist mittlerweile eingebracht. An der Kapelle der Versöhnung in der Bernauer Straße in Berlin. Seit einem Jahrzehnt wird dort Getreide gesät und geerntet, als »ein im ehemaligen Todesstreifen symbolträchtiges und nachhaltiges Zeichen für Leben«, so die Stiftung Berliner Mauer. Man sah auch diesmal keine gekrümmten Rücken, nicht von Menschenhand wurde Ähre für Ähre geschnitten. Auf dem ein Hektar großen Feld kam wie in den Vorjahren ein Mähdrescher vom Versuchsgut Domäne Dahlem zum Einsatz. Ob das Getreide bereits zu Brot gebacken ist oder zu Oblaten für ein Abendmahl, weiß man nicht.
Nun denn, es gibt die verschiedensten Varianten und Versionen der Erinnerung und des Gedenkens. Die zentrale Veranstaltung zum 55. Jahrestag des Mauerbaus findet an diesem Samstag – alle Jahre wieder – in der Gedenkstätte Berliner Mauer statt, diesmal mit eher Semi-Prominenz. Am Denkmal der Gedenkstätte wird ein Kranz niedergelegt. Alle Jahre wieder. Rainer Eppelmann, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur klärte vorab auf: »Mit dem Bau der Mauer wurden die Menschen in der DDR eingesperrt.«
Immens ist das Print- und OnlineAngebot der Bundesstiftung. In diesen Tagen wirbt die Stiftung intensiv mit ihrem Online-Portal zeitzeugenbuero.de, das Interviews zum Thema »Mauerbau« bietet. Da kommen einige in der DDR inhaftierte und freigekaufte, in den Westen geschmuggelte oder »kurz vor Schluss« geflohene Ostdeutsche zu Wort, mehr noch Westberliner und Westdeutsche. Sogenannte Täter jedoch nicht. Ziemlich einseitig das Ganze. Einseitigkeit macht nicht immer schneidig, vor allem nicht klüger.
Aber auch in der Stiftung Aufarbeitung ist nicht mehr alles so, wie es einmal war. Einige Mitarbeiter, vor allem des Nachwuchses, setzen durchaus neue Akzente, interessieren sich nicht nur für Repressionsgeschichte, versuchen den historischen Kontext zu ergründen und teils gar in die Gedankenwelt von »Überzeugungstätern« einzudringen. Am vorgegebenen Vokabular, westliche Demokratie und Freiheit versus kommunistische Diktatur und Unrechtsregime, dürfen sie freilich nicht rütteln.
Bemerkenswert ist die im März der Öffentlichkeit präsentierte Plakatausstellung »Der Kalte Krieg. Ursachen – Geschichte – Folgen«. Die justement zum 70. Jahrestag der Rede des britischen Premiers Winston Churchill in Fulton, in der dieser von einem »Eisernen Vorhang« zwischen Ost und West sprach, fertiggestellte Exposition unterscheidet sich erfreulich von vormaligen Dokumentationen der Stiftung »für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit«.
Ausgehend vom fatalen neuen Kalten Krieg heute thematisiert die Schau auf 22 großformatigen Plakaten, die u. a. in Rathäusern und Stadtbibliotheken leicht aufgestellt respektive gehängt werden können, die globale Systemkonkurrenz im 20. Jahrhundert. Sie informiert über beiderseits provozierte Eskalationen und beidseitige Versuche der Deeskalation durch diplomatische und zivilgesellschaftliche Initiativen, über Wettrüsten sowie über die »heißen« (Stellvertreter)Kriege in der Dritten Welt mit 22 Millionen Toten, »die bis heute wirksame Traumata und ökonomische Entwicklungsdefizite verursachten«. Kräftemessen in Korea, die Raketenkrise um Kuba, das Trauma Vietnam, CIA-Putsche, Peking versus Moskau – hier ist ein großer Wurf gelungen. Man wünschte sich, dass Ansatz und Geist (sowie die Unaufgeregtheit) dieser Ausstellung in der Stiftung um sich greift. Erarbeitet wurde sie vom Hamburger Geschichtsprofessor und Amerikanisten Bernd Greiner sowie Ulrich Mählert, Leiter des Arbeitsbereichs Wissenschaft und Internationale Zusammenarbeit in der Stiftung.
Ohne finanzielle Unterstützung, aber mit viel Fleiß, Idealismus und Insiderkenntnissen, erschien jetzt rechtzeitig zum 55. Jahrestag des »Mauer- baus« ein Buch, das der Einäugigkeit der Bundesstiftung Aufarbeitung und anderer geförderten Forschungsinstitutionen entgegenwirken will: »Halt! Stehenbleiben!« Der Titel – wie auch das Wort »Grenzregime« im Untertitel – verwundert, wenn man die Liste der Autoren studiert. Der vom ehemaligen stellvertretenden DDR-Generalstaatsanwalt Hans Bauer herausgegebene Band lässt Juristen, Journalisten und Offiziere der Grenztruppen sowie den Cheflektor des Militärverlages der DDR »zu Wort« kommen. Eigenartig, dass die Kapitel nicht namentlich gezeichnet sind. Merkwürdig auch, dass es nur ein anonymes Vorwort des Verlages gibt. Das gibt Anlass Spekulationen. Drohte das Werk nicht pünktlich zu erscheinen, wenn der Verleger nicht drängelnd eingegriffen und rasch durchredigiert hätte? Wie auch immer, raffiniert ist der Aufbau des Buches als eine Art Nachschlagewerk. Man muss es nicht in einem Zuge lesen, kann darin schmökern.
Die einzelnen Abschnitte werden zumeist durch eine Frage eröffnet, beginnen mit der für historisch Wissende recht simplen: »Warum wurde die Demarkationslinie zwischen den Besatzungszonen 1949 Staatsgrenze?« und der nicht minder all jenen, die über ein Quäntchen Rechtsverständnis verfügen, leicht zu beantwortenden: »Besaß die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten überhaupt einen staats- und völkerrechtlichen Charakter?« Logisch folgt die sich in einen alten (zumindest bis zur Neuen Ostpolitik) ideologischen Streit begebende Frage: »War die Staatsgrenze eine ›innerdeutsche‹ Grenze?« In die harte Debatte steigt dann das Kapitel ein: »War der ›Mauerbau‹ ein Fehler?« Dem schließt sich ein Diskurs darüber an, ob es ohne sie Krieg gegeben hätte. Gefragt wird weiter: »Warum wurden Menschen aus dem unmittelbaren Grenzgebet ausgesiedelt, was ja eine Art ›Vertreibung‹ war?«
Das Buch ist nicht nur auf die DDR und deren Grenze gen Westen fokussiert, sondern hat internationale Gegebenheiten und Zwänge im Blick. Es analysiert die sowjetische Außen-, Sicherheits- und Bündnispolitik und berichtet über den Einfluss der »Bruderorgane«. Vormundschaft und Unmündigkeit endeten erst, als alles endete. Ebenso werden die Aktionen respektive Reaktionen der westlichen Seite begutachtet. Dabei geht es nicht nur um das Handeln der »Großen«. Informiert wird ebenso darüber, wie sich US-amerikanische und britische Soldaten an der Demarkationslinie und späteren Staatsgrenze sowie bayerische und hessische Grenzpolizisten zu den ostdeutschen Grenzern verhielten. Nicht jeder dürfte wissen, dass sich der 1951 in der Bundesrepublik gegründete Grenzschutz selbst »Truppe des ersten Schusses« nannte und Kaffeefahrten an die Grenze organisierte. Beleuchtet wird des Weiteren die Rolle der Medien in der Propagandaschlacht und im psychologischen zwischen Ost und West.
Organisatorische und technische Details werden ausgebreitet, Umbenennungen wie die von Grenztruppen der NVA in Grenztruppen der DDR und Differenzen, etwa zwischen Grenzregime und Grenzordnung sowie zwischen den Grenzen der DDR zu Polen und zur Tschechoslowakei erklärt. Alles wichtig und richtig. Und es sollte – wie hier – nicht in Vergessenheit geraten, dass über 30 DDRGrenzer im Dienst starben. Dennoch, während institutionell angebundene »Aufarbeiter« und die großen Medien lediglich Interesse für die Opfer der »Mauer« zeigen, sich nicht um die an einer gefährlichen Systemgrenze (und teils später vor bundesdeutschen Gerichten) stehenden Soldaten scheren, so muss man diesem Buch einen fast spiegelbildlichen Vorwurf machen.
Natürlich war der Dienst an der Grenze zwischen der DDR und Bundesrepublik Deutschland, zwischen Ost- und Westberlin weder leicht noch angenehm. Natürlich belastete mental der Befehl, sogenannte Grenzverletzungen nicht zuzulassen, notfalls mit der Waffe zu verhindern. »Und jeder – vom einfachen Grenzsoldaten bis hoch zum Chef der Grenztruppen – war darum froh über jeden Tag, an dessen Ende es hieß: Keine besonderen Vorkommnisse.« Die Suizidrate war bei den Grenzern erschreckend hoch. Das wird im Buch nicht verschwiegen.
Neben dem Dauerstress »Wache schieben« und »Vergatterung« oder nerviger »Rotlichtbestrahlung« hatten Soldaten und Offiziere auch einen gewöhnlichen Alltag, den die Autoren ebenso schildern. In den mageren 1950er Jahren sollen Grenzer sich Schweine gehalten haben und über die Demarkationslinie Quark und Käse gegen Schnaps getauscht haben. Zu ihrer Unterhaltung in der Freizeit wurden Grenztruppen nicht nur mit Spielfilmen sowjetischer Produktion, sondern auch aus Italien, Frankreich Schweden versorgt und von Künstlern aller Sparten unterhalten. Auch das gehört zur Geschichte der »Mauer«.
Wie war das möglich? Die spannendste Frage jüngster Zeitgeschichte versteckt sich in der Buchmitte: »Die so intensiv geschützte Staatsgrenze, die mehr war als nur eine Staatsangelegenheit, sondern eine Bündnisfrage, wurde durch die Unaufmerksamkeit einer einzelnen Person geöffnet?« Und: »Haben die militärische und auch die politische Führung der DDR in der Nacht vom 9. zum 10. November versagt?« Man lese selbst.
Die spannendste Frage ist versteckt: Öffnete sich die Mauer durch Unaufmerksamkeit?