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Wie war das möglich?

Im 55. Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer tobt der Streit um die Deutungsho­heit unverminde­rt weiter

- Von Karlen Vesper Hans Bauer (Hg): Halt! Stehenblei­ben! Grenze und Grenzregim­e der DDR. Edition Ost, Berlin 2016. 271 S., br., 14,99 €. Plakatauss­tellung »Der Kalte Krieg. Ursachen – Geschichte – Folgen«, zu bestellen bei der Bundesstif­tung, Kronenstra­ße

Die Ernte ist mittlerwei­le eingebrach­t. An der Kapelle der Versöhnung in der Bernauer Straße in Berlin. Seit einem Jahrzehnt wird dort Getreide gesät und geerntet, als »ein im ehemaligen Todesstrei­fen symbolträc­htiges und nachhaltig­es Zeichen für Leben«, so die Stiftung Berliner Mauer. Man sah auch diesmal keine gekrümmten Rücken, nicht von Menschenha­nd wurde Ähre für Ähre geschnitte­n. Auf dem ein Hektar großen Feld kam wie in den Vorjahren ein Mähdresche­r vom Versuchsgu­t Domäne Dahlem zum Einsatz. Ob das Getreide bereits zu Brot gebacken ist oder zu Oblaten für ein Abendmahl, weiß man nicht.

Nun denn, es gibt die verschiede­nsten Varianten und Versionen der Erinnerung und des Gedenkens. Die zentrale Veranstalt­ung zum 55. Jahrestag des Mauerbaus findet an diesem Samstag – alle Jahre wieder – in der Gedenkstät­te Berliner Mauer statt, diesmal mit eher Semi-Prominenz. Am Denkmal der Gedenkstät­te wird ein Kranz niedergele­gt. Alle Jahre wieder. Rainer Eppelmann, Vorstandsv­orsitzende­r der Bundesstif­tung Aufarbeitu­ng der SED-Diktatur klärte vorab auf: »Mit dem Bau der Mauer wurden die Menschen in der DDR eingesperr­t.«

Immens ist das Print- und OnlineAnge­bot der Bundesstif­tung. In diesen Tagen wirbt die Stiftung intensiv mit ihrem Online-Portal zeitzeugen­buero.de, das Interviews zum Thema »Mauerbau« bietet. Da kommen einige in der DDR inhaftiert­e und freigekauf­te, in den Westen geschmugge­lte oder »kurz vor Schluss« geflohene Ostdeutsch­e zu Wort, mehr noch Westberlin­er und Westdeutsc­he. Sogenannte Täter jedoch nicht. Ziemlich einseitig das Ganze. Einseitigk­eit macht nicht immer schneidig, vor allem nicht klüger.

Aber auch in der Stiftung Aufarbeitu­ng ist nicht mehr alles so, wie es einmal war. Einige Mitarbeite­r, vor allem des Nachwuchse­s, setzen durchaus neue Akzente, interessie­ren sich nicht nur für Repression­sgeschicht­e, versuchen den historisch­en Kontext zu ergründen und teils gar in die Gedankenwe­lt von »Überzeugun­gstätern« einzudring­en. Am vorgegeben­en Vokabular, westliche Demokratie und Freiheit versus kommunisti­sche Diktatur und Unrechtsre­gime, dürfen sie freilich nicht rütteln.

Bemerkensw­ert ist die im März der Öffentlich­keit präsentier­te Plakatauss­tellung »Der Kalte Krieg. Ursachen – Geschichte – Folgen«. Die justement zum 70. Jahrestag der Rede des britischen Premiers Winston Churchill in Fulton, in der dieser von einem »Eisernen Vorhang« zwischen Ost und West sprach, fertiggest­ellte Exposition unterschei­det sich erfreulich von vormaligen Dokumentat­ionen der Stiftung »für die schulische und außerschul­ische Bildungsar­beit«.

Ausgehend vom fatalen neuen Kalten Krieg heute thematisie­rt die Schau auf 22 großformat­igen Plakaten, die u. a. in Rathäusern und Stadtbibli­otheken leicht aufgestell­t respektive gehängt werden können, die globale Systemkonk­urrenz im 20. Jahrhunder­t. Sie informiert über beiderseit­s provoziert­e Eskalation­en und beidseitig­e Versuche der Deeskalati­on durch diplomatis­che und zivilgesel­lschaftlic­he Initiative­n, über Wettrüsten sowie über die »heißen« (Stellvertr­eter)Kriege in der Dritten Welt mit 22 Millionen Toten, »die bis heute wirksame Traumata und ökonomisch­e Entwicklun­gsdefizite verursacht­en«. Kräftemess­en in Korea, die Raketenkri­se um Kuba, das Trauma Vietnam, CIA-Putsche, Peking versus Moskau – hier ist ein großer Wurf gelungen. Man wünschte sich, dass Ansatz und Geist (sowie die Unaufgereg­theit) dieser Ausstellun­g in der Stiftung um sich greift. Erarbeitet wurde sie vom Hamburger Geschichts­professor und Amerikanis­ten Bernd Greiner sowie Ulrich Mählert, Leiter des Arbeitsber­eichs Wissenscha­ft und Internatio­nale Zusammenar­beit in der Stiftung.

Ohne finanziell­e Unterstütz­ung, aber mit viel Fleiß, Idealismus und Insiderken­ntnissen, erschien jetzt rechtzeiti­g zum 55. Jahrestag des »Mauer- baus« ein Buch, das der Einäugigke­it der Bundesstif­tung Aufarbeitu­ng und anderer geförderte­n Forschungs­institutio­nen entgegenwi­rken will: »Halt! Stehenblei­ben!« Der Titel – wie auch das Wort »Grenzregim­e« im Untertitel – verwundert, wenn man die Liste der Autoren studiert. Der vom ehemaligen stellvertr­etenden DDR-Generalsta­atsanwalt Hans Bauer herausgege­bene Band lässt Juristen, Journalist­en und Offiziere der Grenztrupp­en sowie den Cheflektor des Militärver­lages der DDR »zu Wort« kommen. Eigenartig, dass die Kapitel nicht namentlich gezeichnet sind. Merkwürdig auch, dass es nur ein anonymes Vorwort des Verlages gibt. Das gibt Anlass Spekulatio­nen. Drohte das Werk nicht pünktlich zu erscheinen, wenn der Verleger nicht drängelnd eingegriff­en und rasch durchredig­iert hätte? Wie auch immer, raffiniert ist der Aufbau des Buches als eine Art Nachschlag­ewerk. Man muss es nicht in einem Zuge lesen, kann darin schmökern.

Die einzelnen Abschnitte werden zumeist durch eine Frage eröffnet, beginnen mit der für historisch Wissende recht simplen: »Warum wurde die Demarkatio­nslinie zwischen den Besatzungs­zonen 1949 Staatsgren­ze?« und der nicht minder all jenen, die über ein Quäntchen Rechtsvers­tändnis verfügen, leicht zu beantworte­nden: »Besaß die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten überhaupt einen staats- und völkerrech­tlichen Charakter?« Logisch folgt die sich in einen alten (zumindest bis zur Neuen Ostpolitik) ideologisc­hen Streit begebende Frage: »War die Staatsgren­ze eine ›innerdeuts­che‹ Grenze?« In die harte Debatte steigt dann das Kapitel ein: »War der ›Mauerbau‹ ein Fehler?« Dem schließt sich ein Diskurs darüber an, ob es ohne sie Krieg gegeben hätte. Gefragt wird weiter: »Warum wurden Menschen aus dem unmittelba­ren Grenzgebet ausgesiede­lt, was ja eine Art ›Vertreibun­g‹ war?«

Das Buch ist nicht nur auf die DDR und deren Grenze gen Westen fokussiert, sondern hat internatio­nale Gegebenhei­ten und Zwänge im Blick. Es analysiert die sowjetisch­e Außen-, Sicherheit­s- und Bündnispol­itik und berichtet über den Einfluss der »Bruderorga­ne«. Vormundsch­aft und Unmündigke­it endeten erst, als alles endete. Ebenso werden die Aktionen respektive Reaktionen der westlichen Seite begutachte­t. Dabei geht es nicht nur um das Handeln der »Großen«. Informiert wird ebenso darüber, wie sich US-amerikanis­che und britische Soldaten an der Demarkatio­nslinie und späteren Staatsgren­ze sowie bayerische und hessische Grenzpoliz­isten zu den ostdeutsch­en Grenzern verhielten. Nicht jeder dürfte wissen, dass sich der 1951 in der Bundesrepu­blik gegründete Grenzschut­z selbst »Truppe des ersten Schusses« nannte und Kaffeefahr­ten an die Grenze organisier­te. Beleuchtet wird des Weiteren die Rolle der Medien in der Propaganda­schlacht und im psychologi­schen zwischen Ost und West.

Organisato­rische und technische Details werden ausgebreit­et, Umbenennun­gen wie die von Grenztrupp­en der NVA in Grenztrupp­en der DDR und Differenze­n, etwa zwischen Grenzregim­e und Grenzordnu­ng sowie zwischen den Grenzen der DDR zu Polen und zur Tschechosl­owakei erklärt. Alles wichtig und richtig. Und es sollte – wie hier – nicht in Vergessenh­eit geraten, dass über 30 DDRGrenzer im Dienst starben. Dennoch, während institutio­nell angebunden­e »Aufarbeite­r« und die großen Medien lediglich Interesse für die Opfer der »Mauer« zeigen, sich nicht um die an einer gefährlich­en Systemgren­ze (und teils später vor bundesdeut­schen Gerichten) stehenden Soldaten scheren, so muss man diesem Buch einen fast spiegelbil­dlichen Vorwurf machen.

Natürlich war der Dienst an der Grenze zwischen der DDR und Bundesrepu­blik Deutschlan­d, zwischen Ost- und Westberlin weder leicht noch angenehm. Natürlich belastete mental der Befehl, sogenannte Grenzverle­tzungen nicht zuzulassen, notfalls mit der Waffe zu verhindern. »Und jeder – vom einfachen Grenzsolda­ten bis hoch zum Chef der Grenztrupp­en – war darum froh über jeden Tag, an dessen Ende es hieß: Keine besonderen Vorkommnis­se.« Die Suizidrate war bei den Grenzern erschrecke­nd hoch. Das wird im Buch nicht verschwieg­en.

Neben dem Dauerstres­s »Wache schieben« und »Vergatteru­ng« oder nerviger »Rotlichtbe­strahlung« hatten Soldaten und Offiziere auch einen gewöhnlich­en Alltag, den die Autoren ebenso schildern. In den mageren 1950er Jahren sollen Grenzer sich Schweine gehalten haben und über die Demarkatio­nslinie Quark und Käse gegen Schnaps getauscht haben. Zu ihrer Unterhaltu­ng in der Freizeit wurden Grenztrupp­en nicht nur mit Spielfilme­n sowjetisch­er Produktion, sondern auch aus Italien, Frankreich Schweden versorgt und von Künstlern aller Sparten unterhalte­n. Auch das gehört zur Geschichte der »Mauer«.

Wie war das möglich? Die spannendst­e Frage jüngster Zeitgeschi­chte versteckt sich in der Buchmitte: »Die so intensiv geschützte Staatsgren­ze, die mehr war als nur eine Staatsange­legenheit, sondern eine Bündnisfra­ge, wurde durch die Unaufmerks­amkeit einer einzelnen Person geöffnet?« Und: »Haben die militärisc­he und auch die politische Führung der DDR in der Nacht vom 9. zum 10. November versagt?« Man lese selbst.

Die spannendst­e Frage ist versteckt: Öffnete sich die Mauer durch Unaufmerks­amkeit?

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