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»Die schwierigs­ten Spiele«

Halbzeit bei Olympia: Viel zu wenige Zuschauer sehen in Rio Klassespor­t

- Von Jirka Grahl, Rio de Janeiro

Die Spiele 2016 haben ihre Helden, dennoch gibt es Enttäuschu­ngen. Bürger nehmen ihre Freikarten nicht in Anspruch und die Politik bleibt für sie der Feind. Man kann den Anblick der Olympische­n Turmspring­anlage als Symbol gelten lassen: Das Wasser im Sprungbeck­en und im benachbart­en Wasserball­pool hat sich grün verfärbt, weil es von Algen befallen ist. Zwar versichert der allgegenwä­rtige Sprecher der Spiele 2016, Mario Andrada, es werde bald dank gezielter Chlorierun­g schon wieder blau leuchten und die Gesundheit der Sportler sei nicht in Gefahr, doch im Grunde genommen beschreibt das Missgeschi­ck mit dem Wasser die Situation bei den Olympische­n Spielen anno 2016 recht treffend: Olympia ist weiterhin im Ungleichge­wicht. Und das Gastgeberl­and sowieso.

Schon kurz nach der Abschlussf­eier der Spiele wird in der Hauptstadt Brasilia das Amtsentheb­ungsverfah­ren gegen Präsidenti­n Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpa­rtei beginnen, doch Interimspr­äsident Michel Temer scheint erst recht nicht in der Lage, gegen die schreiende­n sozialen Ungerechti­gkeiten oder die wirtschaft­liche Talfahrt des Landes anzukämpfe­n. Und gegen Korruption schon gar nicht. »Fora Temer!« (Temer raus!), der Slogan der RousseffAn­hänger, ist nach einem Urteil eines Richters sogar an den Wettkampfs­tätten erlaubt und wird reichlich praktizier­t. Bereits bei der Eröffnungs­feier war Temer ausgebuht worden.

Doch all die Plakate, die nun ab und an in den Stadien hochgehalt­en werden, sind nur bedingt wirksam: Viel zu wenige Zuschauer verlieren sich an exotische Wettkampfs­tätten wie Reitstadio­n, Kanupark oder Badmintonh­alle. Dem »Olympic Broadcasti­ng Service«, der die Fernsehbil­der für die ganze Welt produziert, fehlt vielerorts die stimmige Kulisse für eine perfekte Inszenieru­ng: Menschen auf den Rängen.

Sieben Tage war Olympia am Freitag alt, da meldete sich IOC-Vizepräsid­ent John Coates in der BBC zu Wort: In Sachen Zuschauerz­uspruch seien Rio 2016 »die schwierigs­ten Spiele überhaupt«, sagte der Australier: »Das ist eine Enttäuschu­ng.« Inwiefern beschwerli­che Anfahrtswe­ge und lange Wartezeite­n die Leute vom Kommen abhalten, sei schwer fest- zustellen. 84 Prozent der Tickets gelten als verkauft, so die offizielle­n Zahlen. Coates glaubt, dass vor allem die Freiticket­s nicht genutzt würden: »Wir haben Verständni­s dafür, dass Tickets an ärmere Menschen und Schulkinde­r verteilt wurden, aber wir sehen sie nicht an den Wettkampfs­tätten.«

Sportlich haben die Spiele der Gastgebern­ation hingegen immerhin zwei neue Heldinnen beschert und dass das zwei schwarze Frauen sind, sehen viele Kommentato­ren als ein gutes Zeichen für das fünftgrößt­e Land der Welt: Marta, der im Fußballsta­dion viel mehr zugejubelt wird als dem enttäusche­nden Superstar Neymar, und vor allem Rafaela Silva, die Goldmedail­lengewinne­rin im Ju- do. Sie rührte viele Einheimisc­he zu Tränen, als sie mit der Medaille vor die Mikros trat. Die Judoka, die in Rios Favela Cidade de Deus aufwuchs, war nach ihrem frühen Ausscheide­n in London als »Peinlichke­it für ihr Land« geschmäht worden. In rassistisc­hen Kommentare­n wurde ihr geraten, in den Affenkäfig zurückzuke­hren. »Sie haben mich als Schande für meine Familie bezeichnet«, sagte Raffaela Silva, »jetzt bin ich zurück und gewinne in meiner Stadt Gold!«

Während die Brasiliane­r ihre Heldin feiern, zelebriere­n die Amerikaner die ihren: Die unvergleic­hliche Simone Biles gewinnt auch im Turnmehrka­mpf die zweite von fünf angepeilte­n Goldmedail­len. Und Michael Phelps von Schröpfmal­en ge- zeichneter Oberarm ist, zum Jubel emporgerec­kt, ein weiteres Erkennungs­zeichen der Rio-Spiele von 2016. Seine Überlegenh­eit – am Donnerstag­abend schwamm er zu seiner 22. Goldmedail­le – ist ebenso bestaunens­wert wie befremdlic­h: Das Goldmedail­lensammeln selbst ist die neue olympische Höchstleis­tung.

Wer nur in einer Gewichtskl­asse oder einer Spezialdis­ziplin antritt, hat kaum das Zeug zum Superstar. Es sei denn, er ist Rugbyspiel­er und kommt von den Fidschi-Inseln: Nach dem Olympiasie­g im 7er-Rugby am Freitag feiert ein ganzes Land die erste Olympiamed­aille seiner Helden. Der Premiermin­ister verordnete seinen 900 000 Einwohnern gleich einen Extra-Feiertag.

 ?? Foto: imago/Kyodo News ?? Rafaela Silva gewann Brasiliens erste Goldmedail­le in Rio de Janeiro und wurde so zur Nationalhe­ldin.
Foto: imago/Kyodo News Rafaela Silva gewann Brasiliens erste Goldmedail­le in Rio de Janeiro und wurde so zur Nationalhe­ldin.

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