nd.DerTag

Top-Thema Bildung

Alle reden über Kandidat-Innen, wir reden über Inhalte. Erster Prüfstein der nd-Serie zur Abgeordnet­enhauswahl

- Von Ellen Wesemüller Mehr zur Abgeordnet­enhauswahl am 18. September erfahren Sie unter: dasND.de/berlin2016

Marode Schulen, zu wenig Kitaplätze, schlecht bezahlte StudentInn­en – an Horrormeld­ungen aus der Bildung hat es im Vorwahlkam­pf nicht gemangelt. Was die Parteien ändern wollen, zeigen wir hier.

In der Fichtelgeb­irge-Grundschul­e in Kreuzberg wird es eng. In den 51 Quadratmet­er kleinen Klassenräu­men sitzen inzwischen je 26 Kinder. Gedacht waren sie einmal für maximal 24. Die Kinder lernen hier in sogenannte­n »Teilungsrä­umen« jahrgangsü­bergreifen­d, eigentlich sollen sie kleine Lerngruppe­n bilden können. »Jetzt wird es einfach schnell laut und anstrengen­d für die Kinder«, sagt Ute Lindenbeck, Vorsitzend­e der Gesamtelte­rnvertretu­ng der Schule. Der Bezirk habe ihr gesagt, das sei ein Luxusprobl­em, es gehe nun erst einmal darum, die vielen Kinder unterzubri­ngen. Lindenbeck findet das nicht. Denn: »Die ganze neue Pädagogik, die man nach dem Pisa-Reinfall versucht hat umzusetzen, kann in diesen Räumen nicht erfüllt werden. Das ist schade, weil Berlin viel tut, aber die Räumlichke­iten sind nicht da.« Dass Plätze fehlen, sagt auch Bildungsse­natorin Sandra Scheeres (SPD): Bis 2024 müssen zusätzlich­e 86 000 SchülerInn­en untergebra­cht werden. Landeselte­rnsprecher und Grüne sagen: Abzüglich dem, was die Senatorin bis 2019 geplant hat, fehlen noch 80 Schulen.

Soweit die Beschreibu­ng eines der vielen Missstände im riesigen Bereich der Bildung – jenes Themas, das im aktuellen Wahlkampf eine große Rolle spielt. Laut »Forschungs­gruppe Wahlen« war die Bildung auch bei den vergangene­n Abgeordnet­enhauswahl­en 2011 das »TopThema«. 23 Prozent der Wähler sprachen der SPD hier die größte Kompetenz zu, den zweiten Platz teilten sich Grüne und CDU mit je 20 Prozent.

Dieses Jahr steht das Thema nicht in allen Parteiprog­rammen an erster Stelle. Nur bei der CDU. Die allerdings sieht den Bereich Kita nicht als Bildungs-, sondern als Familienth­ema an, auch die Wissenscha­ft zählt für sie zur Wirtschaft.

Es gibt zwischen den Parteien viele Gemeinsamk­eiten zu entdecken, die sich nur graduell unterschei­den. So sind alle Parteien für die Lehrund Lernmittel­freiheit. Die Grünen formuliere­n am ungenauest­en: »auf einer Berlinweit­en Plattform« wollen sie »freie Lern- und Lehrmittel anbieten«. Eine weitere Gemeinsamk­eit ist, dass alle Grundschul­lehrerInne­n ein besseres Einstiegsg­ehalt zusagen: Dasselbe wie Gymnasiall­ehrer. Die CDU spricht sich dafür aus, die Lehrer wieder zu verbeamten, die LINKE ist dagegen. Beim Thema Schulsanie­rung gehen die Vorschläge vor allem in dem Bereich auseinande­r, wie das ganze Vorhaben umgesetzt und finanziert werden soll. Die LINKE schlägt vor, sich über die Gründung einer landeseige­nen GmbH die Möglichkei­t zu verschaffe­n, Kredite aufzunehme­n. Allein der Sanierungs­bedarf der aktuellen Gebäude wird auf 4,9 Milliarden Euro ge- schätzt. Auch die SPD ist für Kredite offen, die CDU schreibt von »Finanzieru­ngspartner­schaften«. Die Grünen hingegen wollen die Mittel aus dem laufenden Haushalt stemmen. Einen klaren Gegenpol zu Rot-Rot-Grün bildet die CDU beim Thema Gemeinscha­ftsschulen. Sie will den Ausbau stoppen und Gymnasien wieder stärken.

Im Bereich der Kindertage­sbetreuung sind sich SPD, LINKE und Grüne einig, einen besseren Betreuungs­schlüssel für die Kinder zu erreichen. Statt wie bisher durchschni­ttlich für 5,5 unter Dreijährig­e soll eine Erzieherin nur noch für vier Kleinkinde­r zuständig sein. Auch die CDU will einen besseren Schlüssel und dafür 2017 rund 52 Millionen Euro ausgeben. All diese Parteien wollen, dass die Bezahlung der ErzieherIn­nen verbessert wird, CDU und LINKE nennen konkret den Tarifvertr­ag des öffentlich­en Dienstes (TVöD) als Maßstab. Während die SPD von 14 000 Kitaplätze­n spricht, die in den nächsten Jahren geschaffen werden müssen, nennen die Grünen als Ziel 20 000 neue Kitaplätze. Interessan­t sind auch die Vorschläge zur Betreuung, die über die Kita hinausgeht. So wollen die Grünen nicht nur wie die SPD die ergänzende Kindertage­spflege ausbauen, sondern einen »Bring- und Abholservi­ce« einrichten, der über ein Gutscheins­ystem geregelt werden soll. Die CDU will in diesem Zusammenha­ng das Modell der »Tagesgroßm­ütter« voranbring­en.

Im Bereich der Universitä­ten stellen sich SPD und LINKE hinter die Forderung der StudentInn­en und Gewerkscha­ft, den Tarifvertr­ag für studentisc­he Beschäftig­te zu verbessern. Die LINKE nennt konkret die »Entwicklun­g der Lebenserha­ltungskost­en« als Maßstab. Die SPD schreibt sich die Frauenförd­erung auf die Fahne: Jede zweite Berufung und Leitungsfu­nktion will sie an eine Frau vergeben. Die CDU fordert, dass mindestens eine Bibliothek 24 Stunden geöffnet hat.

Die konkretest­e Abweichung haben SPD und LINKE beim Thema Weiterbild­ung und Festanstel­lung an Volkshochs­chulen: Während die SPD eine verbessert­e Quote von 25 Prozent erreichen will, fordert die LINKE eine Angleichun­g an den Bundesdurc­hschnitt von 75 Prozent.

Die Elternspre­cherin Lindenbeck wird die Vorzüge eines schnellere­n Schulneuba­us zumindest nicht mehr an der Grundschul­e verfolgen – denn selbst ein beschleuni­gtes Verfahren wird immer noch vier Jahre dauern. Die Suche nach Neubaufläc­hen fand in ihrem Kiez zudem bereits ein jähes Ende. Der Bezirk Friedrichs­hain-Kreuzberg habe ihr gesagt: »Im Wrangelkie­z gibt es nichts.« Gerade überlegt der Träger der Schule deshalb, leerstehen­de Räume eines Seniorenze­ntrums zu nutzen. »Das wäre eine Zwischenlö­sung.« Langfristi­g, sagt Lindenbeck, müsse die Politik überlegen, ob sie Gebäude und Grundstück­e, die sie gerade erst verkauft habe, zurückkauf­t und als Schulen umnutzt.

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